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Bildet Schlangen!

■ Kleiner Künstler „Saltimbanco“: Wie ein gigantischer Taschenspielertrick überrumpelt der „Cirque de Soleil“ sein Publikum Von Julia Kossmann

Groteske Clowns, fabelhaft bis angepunkt, treiben Allotria im Publikum auf den Rängen. Es dauert, bis 2494 Plätze besetzt sind. Die lustigen Personen huschen umher, Damen wird das Haar gewuschelt, alten Herrn die Glatze getätschelt, warming up. Bühnenrund und Orchester-Empore werden entschleiert. Nach einer seeehrrr kurrrzen Rede – „... bedanken wir uns bei den Sponsoren...“ – beginnt die Show mit der „Adagio Akrobatik“: Mann, Frau und Kind vereint als gelenkige Familie in einem Meer von Licht und Farben.

Sie tragen, stützen, heben, balancieren einander höchst kunstvoll, und mal lehnen die beiden Großen Rücken an Rücken und sehen geradezu entrückt dem Knaben zu, wie er die Fußspitzen neben die Ohren setzt. Gestylte Traditionsartistik, die irgendwie doch ans Herz geht.

Dem anrührenden zirzensischen Genrebild folgen die „Chinesischen Masten“. 15 Akrobaten robben und tanzen sich an diese vier Stangen heran, um daran Einzel- und Synchronübungen mit ausgeprägtem Trotz gegen die Schwerkraft und von höchster Perfektion zu vollführen.

Das ist schön. Sehr schön. Und meistens lächeln sie bei ihren Übungen, die insgesamt 45 Artisten aus neun Ländern und vier Kontinenten. Strahlend, kunstvoll, verträumt und nie böse erzählen sie aus einem pittoresken Artistenleben, von Saltimbanco, dem „Straßenkünstler“, der dem Stück des Cirque de Soleil den Titel gab. Als gigantischer Taschenspielertrick für eine Zeltbühne inszeniert, betören sie die Sinne: Die begnadeten Körper der Schlangenmenschen, die atemraubende Cheng Wei auf dem Hochseil, die durch die Kuppel schnellenden Bungee-Springer, der Clown Julien Cottereau oder die eleganten Kraftakrobaten Marco und Pauolo Lorador und der vielen Artisten. – Erst nach der oppulenten Show, also vielleicht erst beim Durchblättern des Programmhefts, bleibt von schönen Erinnerungen soviel wie von einem kunterbunten Marshmellow, das sich im Bauch aufbläht.

Man wolle „einen unauslöschlichen Eindruck im Herzen eines jeden Zuschauers hinterlassen“, wird da in hochglänzender Prosa versprochen, wie schon lange keiner mehr sülzte. Saltimbanco erscheint so glitzernd hippiesk, als hätte man die Kelly-Family aufs Abba-Format hochtoupiert.

Der Zirkus des ehemaligen Feuerspuckers Gilles Ste-Croix ist der perfekte Eklektizismus innovativer Zirkustendenzen des vergangenen Jahrzehnts dieseits und jenseits der Ozeane – und ein Märchen zugleich. Binnen eines Dutzend Jahre mauserte sich die Idee einer Handvoll Straßenkünstler aus dem schönen Quebec zu einem der größten Zirkusunternehmen der Welt. Die Elemente Show und Musical, Akrobatik und Sentiment sind gebündelt, um vom Hippie bis zum Webber-Fan, vom Kind bis zu den Großeltern alle zu bedienen.

Daß die modernen Komödianten in der Stadt (bis zum 3. März) sind, wurde dieser Tage in allen Medien so erfolgreich ausposaunt wie einst ein Familienzirkus ein ganzes Dorf mit Rumtata und Tätärä anzog. Mit 1,5 Millionen ZuschauerInnen wird die Europa-Tournee 1995/96 veranschlagt, an deren Ende über acht Millionen Menschen den C.d.S. gesehen und bestaunt haben. Sie werden CDs, Videos, Sticker oder Krawatten usw. als Souvenir erstanden haben, diesen liebenswerten Sondermüll, promoted von ehemaligen Straßenkünstlern, die die anarchistische Energie des Fahrendes Volks in eine lukrativ bezaubernden Mechanik umgemünzt haben. Und zwar so perfekt, daß nach der letzten Nummer der Bungee-Springer, wenn sie sich im Taumel von Sturz, Flug, Beifall und Jubel überschlagen haben, zunächst nur ein Gedanke bleibt: „Beim Himmel, diese Show war schön!“

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