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■ Luther von unten: Ein Arzt der Berliner Charité untersuchte die Krankheitsgeschichte des ReformatorsSporadischer Drehschwindel, einseitige Ohrgeräusche und Schwerhörigkeit

Martin Luther litt an Stuhlverhalten, Harnverhalten, Ohrensausen, bohnengroßen Nierensteinen, Krankheiten der ableitenden Harnwege, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Hämorrhoiden, Halsabszessen, Hüftschmerzen, Schwerhörigkeit, Schwindel und Ohnmachtsanfällen, Krämpfen, Kopfweh, Koliken und Gicht. In seiner Untersuchung „Luthers Leiden“ hat der Chrirurg und Medizinhistoriker Hans-Joachim Neumann das Bulletin um Bluthochdruck und Grauen Star erweitert.

Neumanns profunde „Krankheitsgeschichte des Reformators“ zeigt Luther von unten, am Boden, in der Ohnmacht, schweißnaß auf dem Donnerbalken und im Krankenbett. Wie es um ihn stand, teilte Luther am 12. Mai 1521 von der Wartburg aus Melanchthon mit: „Der Herr schlug mich durch heftigen Schmerz in den Posteriobus; mein Stuhl ist so hart, daß ich gezwungen werde, ihn mit großer Kraft bis zum Schweißausbruch herauszustoßen.“ Für das noch immer populäre Bild vom kraftvollen Geistesriesen, der es mit einer ganzen Welt aufnahm, vor Gesundheit strotzte, den Tod nicht fürchtete und unerschütterbar kerzengerade stehenblieb, weil er nicht anders konnte, ist Luther selbst nicht verantwortlich. In zahlreichen Selbstzeugnissen ist er vom Hypochonder nur noch mühsam zu unterscheiden.

Er leide „an zu harten Exkrementen“, stellte er am 10. Juni 1521 fest. Die Hartleibigkeit war nicht zu kurieren, und im Laufe der Jahre entwickelte sich Luther zum Darmfachmann in eigener Sache. Ausführlich und detailverliebt ging er in seinen Briefen auf die Beschaffenheit seines Stuhlgangs und den Zustand seiner Ausscheidungsorgane ein. In einem Brief vom 6. Januar 1530 heißt es: „Meine Krankheit war eine solche, dass mit dem Stuhlgang zugleich eine angeschwollene Lippe des Afters im Umfang fast von der Grösse einer Wallnuss hervortrat. Darauff sass eine kleine juckende Erhabenheit (scabies minutula) von der Grösse eines kleinen Hanfkorns. Dieselbe machte um so mehr Beschwerden, je weicher der Stuhl war. Ging geronnenes Blut ab, so befand ich mich um so wohler und um so angenehmer, ja mit Vergnügen verbunden, war der Akt der Stuhlentleerung. Je mehr Blutgerinnsel abgingen, um so mehr Vergnügen hatte ich, so dass diese angenehme Empfindung mich mehrmals täglich veranlasste, zu Stuhle zu gehen. Drückte ich mit dem Finger, so juckte dies äussert angenehm und floss Blut. Deshalb durfte nach meiner Ansicht dieser Blutstuhl durchaus nicht gestillt oder vermindert werden. Man nennt dies die güldene Ader (vena aurea) und ist sie in der Tat gülden. Denn man sagt, dass mit diesem Cruor, was im ganzen Körper krank ist, herausfliesse, gleichsam als ob dies wäre die porta sterquilinii (Misthaufen) für alle Uebel und dass solche Leute sehr lange leben, als ob an diesem Orte die ganze Apotheke und alle Doctores medicinae sich eingeschlossen befänden.“

„Wir schaissen vns zu todt, fasten vns zu todt“

Die Erhabenheit des Reformators muß die juckende Erhabenheit an seinem Hinterteil nicht schmälern. Für Luther standen Verdauungsprobleme im Mittelpunkt seines Lebens, und er bediente sich auch immer wieder genießerisch der Fäkalsprache. „Wir essen vns zu todt, trincken vns zu todt, schaissen vns zu todt, fasten vns zu todt“, erklärte er in einer seiner Tischreden. Dieser prosaischen Lebensauffassung entsprachen Luthers schlichte Hausrezepte („Mein bestes Mittel gegen die Steinbeschwerden ist unser Bier“); dem Rat seiner Ärzte folgte er nur mißtrauisch murrend und so selten wie möglich.

Aus Luthers Briefen und Tischreden und aus den Zeugnissen der Zeitgenossen schließt Neumann darauf, daß Luther an der Menièreschen Krankheit litt, einer Erkrankung des Innenohrs, die sporadischen Drehschwindel, einseitige Ohrgeräusche und Schwerhörigkeit verursachte. Das „Sausen und Brausen“ im linken Ohr setzte Luther jahrelang zu. Er spüre „im Kopf Stürme aller Meere und Bäume“, klagt er im April 1541 und gelangte zu dem nüchternen Urteil, daß er „ein kalter und unnützer Cadaver“ sei, „dem allein das Grab übrig bleibt“ – seine Krankheiten hatten ihm längst alle Lebensfreude vergällt.

„Ich bin den ganzen Tag zu nichts tauglich“

„In der vergangenen Nacht habe ich nicht geruht noch geschlafen wegen der Schmerzen durch meinen Schinder und Satan, den Stein“, schrieb Luther am 15. Juni 1545. „Deshalb bin ich den ganzen Tag zu nichts tauglich. Noch ist er nicht abgegangen, sondern hält sich in meinem Körper verborgen, doch nicht ohne sich bemerkbar zu machen, jener Stachel meines Fleisches, ich weiß nicht, wann ich diesen hassenswerten Fötus werde herausbringen können. Ich wünsche zu sterben.“

Luther starb jedoch erst am 18. Februar 1546. Ein Schlaganfall, ein „Katarrh der Luftwege“, eine Magenneurose, Folgen des Nierenleidens, Angina pectoris und Kreislaufinsuffizienz wurden im Laufe der Jahrhunderte als Todesursachen erwogen. Neumann plädiert für einen Herzinfarkt. Und er vermutet, daß die Krankheitsgeschichte Luthers Werk unmittelbar beeinflußt habe. Der Polemiker Luther, von Schmerzen gequält und gereizt, sei nicht zimperlich in der Wahl seiner Worte gewesen; um so weniger, je übler ihn seine Leiden plagten. „Mit regelrechter Freude bediente er sich durchaus zweifelhafter Mittel, wenn er nicht zurückschreckte, die Namen seiner Gegner zu persiflieren und aus Eck Dr. Dreck, aus Cochläus Kochlöffel oder Rotzlöffel, aus Schwenckfeld Stenkfeld machte, um nur einige Beispiele zu nennen. Viele Angriffe und bedenkliche Verhaltensweisen, besonders, was den Papst betraf, entstanden unter dem Einfluß körperlicher und daraus resultierender seelischer Belastungen“, schreibt Neumann. Aber wenn Luther, der das „fröhliche Aufeinanderplatzen“ der Meinungen schätzte, Pamphlete wie „Der Papstesel zu Rom“ und „Die Bulla vom Abendfressen“ veröffentlichte, müssen keineswegs Nierensteine und störende Ohrgeräusche die treibende Kraft gewesen sein. Streitlust und Rauhbauzigkeit sind schließlich keine Krankheitssymptome, und Polemik ist keine Ausdrucksform der Gicht, sondern des Geistes.

Ganz zu schweigen davon, daß der Papstesel zu Rom und andere Rotzlöffel sich noch viel bedenklicherer Verhaltensweisen bedienten. Gerhard Henschel

Hans-Joachim Neumann: Luthers Leiden. Die Krankheitsgeschichte des Reformators. Wichern-Verlag 1995, 210 Seiten

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