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Großes Gerede

■ Das Fernsehen schwappt ins Radio zurück. Heute startet in Berlin Deutschlands erstes Talkradio, ein Ableger von RTL

Bis gestern wurden die Anrufer bezahlt. Schauspieler mimten in der Probephase des heute an den Start gehenden „NewsTalk“-Radios das diskussionsfrohe Radiovolk. Den Jungmoderatoren sagten die Chargen übers Telefon immer genau das, wovon man in Radio-Chefetagen glaubt, daß es „den Leuten auf den Nägeln brennt“: Valentinstag (Welche Ausrede, wenn ich ohne Blumen komme?) oder „Die „Unglücksmaschine“ (Noch sicher auf die Kanaren?).

Nun soll das echte Volk kommen und ihnen Programm geben. Sie werden betteln um Anrufe, buhlen werden sie um „Interaktivität“, einfach um „Menschen“, die reden, die vor allem „gern reden“. Zum Beispiel über eine „Meinung“. Denn „eine Meinung hat ja schließlich jeder“, hoffen die Talker. Ob Haushaltsloch, ob Fremdenhatz, ob Sex, ob Crime, sie werden reden, reden, reden. Gegen die Zeit, gegen die Leere. Und keine Musik verschafft Erlösung.

In den USA ist Talkradio seit den frühen Sechzigern eine der populärsten Radioformen – mal als Bad im Seichten, mal als Schmutzventil für die Gerüche aus dem Bauch der Gesellschaft. Doch hier verspricht Programmchef Peter Laufer „sauberen“ Talk. Der Amerikaner kam als scharfer Kritiker des Mediums nach Berlin, für das er lange gearbeitet hat. Dennoch, ist er sich sicher, läßt sich mit Talkradio auch in Europa ein prima Mus aus Basisdemokratie und Unterhaltung rühren. Fragt sich, ob die Alte Welt das ebensogern auslöffelt wie die Neue. Und ob in Deutschland mehr als die dort üblichen drei Prozent der Talkhörer Lust darauf verspüren, selber telefonisch mitzutun.

Talk gilt bei vielen Radiomachern als das letzte Format, das in den mit wortarmen Oldiestationen vollgeklebten UKW-Netzen noch einmal richtig Geld verspricht. Die Gesellschafter von „NewsTalk“, allen voran die Luxemburger RTL, hoffen in vier Jahren auf Gewinne. Hier will sich deren deutscher Rundfunkchef Bernt zur Mühlen „die Gottschalks des Radios“ züchten.

So schwappt das Fernsehen ins Radio zurück. Dessen Geschäft es seit längerem ist, den Dauertalk zu visualisieren, der zur unverzichtbaren Ware des sinnproduzierenden Gewerbes geworden ist. Talk vermittelt Bered- und Beherrschbarkeit von allem und jedem – ein beruhigendes Gefühl vom Lauf der Dinge. Das kann Radio schneller.

Talkradiopioniere wie den Hamburger Medienunternehmer Frank Otto (mit 20 Prozent dabei) schwärmen von der Kraft des Wortes. Otto, der den Moderatoren seines „OK-Radio“ im letzten Sommer den Mund verbot („zuviel Gebrabbel“), heute: „Es gibt ein Bedürfnis nach Stimmen. Zum Beispiel nach Stimmen im Haus, wenn niemand da ist.“

Kurz vor Beginn des großen Geredes gab es noch einmal Querelen: Der (Nachrichten-)Chefredakteur Josef Ernst wurde gefeuert (Ernst: „zu öffentlich-rechtlich“ habe man ihn genannt), und die Marketingleiterin hielt es in einer Mitteilung für die Werbekunden für „denkbar, daß Mitarbeiter eines Unternehmens themenbezogen bei ,NewsTalk 93.6‘ als Talkmaster arbeiten“. Bevor heute um zwölf „NewsTalk“ spricht und die Einsamkeit vertreibt, lassen wir Moderatorin Anja Krystyn sprechen: „Ich interessiere mich für die Menschen. Für die gesunden Menschen. Denn von der Medizin, da komme ich her.“ Lutz Meier

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