„Kanonenbootlogik“

■ Der Friedensforscher Jean-Paul Hébert plädiert für die Beibehaltung der Wehrpflicht

taz : Was sagen Sie zu Chiracs neuem Militärkonzept?

Jean-Paul Hébert: Ich glaube, der zentrale Punkt ist die Änderung der klassischen Verteidigungsdoktrin Frankreichs. Außerdem stellt die Abschaffung der Militärpflicht das Verhältnis zwischen Armee und Nation in Frage, was in Frankreich immer ein empfindliches Thema ist.

Warum?

Der Präsident hat das Beispiel des britischen Berufsheeres genannt. Aber es hat nie einen britischen General gegeben, der im politischen und sozialen Leben seines Landes eine Rolle gespielt hat, die vergleichbar wäre mit Napoléon Bonaparte, Général Boulanger, Marschall Pétain oder Général de Gaulle.

Es gab auch keine Dreyfus-Affäre.

Genau. Die Beziehungen sind anders. Großbritannien ist eine alte konstitutionelle Monarchie, die ihre Armee immer auf die militärische Rolle beschränkt hat. In Frankreich hat es immer Perioden gegeben, in denen die Beziehungen zweideutig waren, wo sich die Armee in das politische Leben eingemischt hat.

Ist dieses Kapitel in der Geschichte der französischen Armee nicht mit dem Algerienkrieg zu Ende gegangen – also vor über 30 Jahren?

Nach dem Trauma des Algerienkriegs ist die Armee in Frankreich tatsächlich diskret geworden. Aber nichts garantiert, daß das immer so bleibt. Mich beunruhigt die neue Situation, in der die Armee in einigen Jahren sein wird. Eine reine Berufsarmee ist zwangläufig korporatistischer und hat eine andere Beziehung zur Politik. Deswegen brauchen wir den Militärdienst.

Entspricht das neue Militärkonzept den vitalen Interessen Frankreichs?

Meines Erachtens nicht. Die bisherige Doktrin stellte zuerst die Mittel zur Verteidigung der vitalen Interessen der Republik bereit, einschließlich der nuklearen Abschreckung. Jetzt gibt es eine Expeditions- oder Kanonenbootlogik, wo die Abschreckung — ob nuklear oder nicht — zweitrangig ist, weil Frankreich sich als einen Weltgendarmen sieht. Es ist überhaupt nicht klar, warum Frankreich in der Lage sein muß, 50.000 Mann sieben- oder achttausend Kilometer weit einsetzen können muß. Frankreich kehrt in die Nato-Integration zurück. Ich sehe in der Interventionstruppe, die auf jeden Punkt des Planeten geschickt werden kann, eine gewisse Anpassung an das US-amerikanische strategische Denken. Das beunruhigt mich. Interview: Dorothea Hahn, Paris

Hébert arbeitet am „Interdisziplinären Forschungszentrum über den Frieden und strategische Studien“ (CIRPES) in Paris. Seine jüngste Buchveröffentlichung, „Production d'armement — mutation du système français“ (Verlag: Documentation française) ist 1995 erschienen.