: Krank, aber nicht allein
■ Immer mehr Patientengruppen setzen auch im deutschen Sprachraum auf Hilfe und Information aus dem Internet
Rote Lippen sind nicht immer nur zum Küssen da. Sie standen auch Modell für das Logo der „Red Lip“, die Selbsthilfegruppe von Patienten, die an einer Erkrankung des Fettstoffwechsels leiden. (http://www.ping.at/users/redlip). Pralle Lippen gelten als Zeichen für Störungen dieser Funktionen des menschlichen Körpers, und im World Wide Web stehen sie nun ziemlich selbstbewußt für eine der wenigen Patientengruppen deutscher Sprache, die den Sprung in neue Medium gewagt hat.
Die Roten Lippen sind in Österreich zu Hause, das vor allem ist bemerkenswert – in den USA würde eine Initiative dieser Art schon zum Alltag gehören. Dort nutzen Patienten und karitative Verbände ganz selbstverständlich das Internet. Wer Hilfe zur Selbsthilfe braucht, kann im alphabetisch sortierten, virtuellen Telefonbuch nach der Nummer der geeigneten „Patient Advocacy Group“ suchen (http://infonet.welch.jhu.edu/advo cacy.html).
Dagegen sieht die Bilanz in Deutschland mager aus: Von den über 60.000 Selbsthilfegruppen und Verbänden hierzulande ist nur ein Bruchteil online vertreten. Dabei könnte ihnen das Internet mehr Nutzen bringen als die klassischen Kommunikationsformen: Per E-Mail sind Organisationen schneller und direkter für ihre Zielgruppe erreichbar als über dauerbesetzte Telefon-Beratung oder die Briefpost. Hilfsangebote, Bilder und Literaturquellen lassen sich durch Hyperlinks übersichtlicher gliedern und zusammenstellen als in Broschüren. Zudem kann das Online-Angebot sogar billiger werden, weil zum Beispiel Versandkosten für Informationsmaterial wegfallen.
Allmählich setzen sich solche Erkenntnisse durch. „Wir kommen am Internet nicht mehr vorbei“, sagt Reiner Blanke, Leiter der EDV-Abteilung bei der Deutschen Krebshilfe (http://www.me dizin-forum.de/krebshilfe/). Seit November 1995 ist die Krebshilfe im Netz. Blanke (E-Mail: blan ke@krebshilfe.de): „Das geht jetzt so richtig los. Manche Menschen schütten in der Mail ihr ganzes Herz aus.“
Allein im Januar dieses Jahres verzeichnete die Homepage der Krebshilfe 724 Zugriffe. Gut zwei Drittel davon stammen aus Deutschland, vier Prozent aus der Schweiz, Österreich und den Niederlanden. „Im Schnitt erhalten wir fünf Anfragen pro Tag“, schätzt Reiner Blanke, der die Mails „wie jede Post vertraulich behandelt“ und an die hausinternen Beratungsstellen weiterleitet.
Die Zahl der Anfragen steigt, wenn in den Medien über die Krebsforschung berichtet wird. In der elektronischen Post finden sich jedoch nicht nur Hilferufe, auch kommerzielle Netz-Surfer aus Firmen und Medien werden angelockt. Seit kurzem ist die Krebshilfe deshalb auch über die Online- Ausgabe des Stern erreichbar (http://www.stern.de/). Blankes jüngstes Projekt ist die Aufklärungsbroschüre „Krebs – Wer ist gefährdet?“. Das komplette Werk wird nicht nur am Bildschirm vorgeführt, sondern soll sich demnächst auch als komprimierte Datei kostenlos auf den heimischen Computer laden lassen.
Noch sind Organisationen wie die Deutsche Multiple-Sklerose- Gesellschaft (DMSG) oder die MS-Kontaktgruppe für alternative Therapien nur per E-Mail erreichbar. „Aber sobald wir eine kostengünstige Lösung für eine Homepage gefunden haben, wagen wir den Schritt ins Internet“, sagt Werner Mayer. „Computer sind mein Hobby“, sagt der 31jährige Erlanger (W.MAYER@LINK N.Cl.sub.de), aber er benutzt sie nicht nur zu seinem Privatvergnügen. Er leidet selbst an einer „rätselhaften, MS-ähnlichen Krankheit“, wie er sagt, und stellt seinen elektronischen Briefkasten nicht nur den MS-Gruppen, sondern auch der Deutschen Heredo-Ataxie-Gesellschaft (DHAG), der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft und dem Behinderten- Sportverband zur Verfügung. An sie leitet er schon seit einigen Jahren Informationen und Anfragen aus dem Internet weiter. E-Mails hält Mayer für die „Kommunikationsform der Zukunft“.
Auch Reiner Blanke von der Deutschen Krebshilfe hofft auf weiteren Fortschritt. Für seine Organisation wünscht er sich einen eigenen Server. Auf dem würde er gerne kleineren, weniger finanzkräftigen Selbsthilfegruppen ein Forum geben, doch dazu müsse sich erst einmal „die Politik im Hause ändern“. Immerhin konnte Blanke seine Funktionäre mit viel persönlichem Engagement von der Notwendigkeit einer eingängigen WWW-Adresse überzeugen. Am besten gefiele ihm „www. Krebshilfe“.
Als „Anlaufstelle und Interessenvertretung“ versteht in Wien Helmut Schmidt den Red-Lip- Verein, dem er vorsteht. Er ist selbst Lipidpatient, und beantwortet mit seinem Vize Helmut Sinzinger zusammen auch persönlich Anfragen aus ganz Österreich. (E-Mail: RedLip@ping.at). Sinzinger, Universitätsprofessor für Nuklearmedizin in Wien, ist auch mit Lipidstoffwechselstörungen befaßt. Denn neben der Aufklärung der breiten Öffentlichkeit zielt die Vereinigung auch auf die Ärzteschaft, deren Forschung und fachliche wie psychosoziale Weiterbildung sie verbessern will.
So weit fortgeschritten im Internet sind in Deutschland nur Lipidkranke, die am Morbus Gaucher leiden, einer seltenen Störung der Lipidspeicher. Die Gaucher-Gesellschaft Deutschland (GGD) gibt ihre Mitgliederzeitschrift „go- schee-Brief“ inzwischen auch online heraus, und ist unter http:// www.uni-karlsruhe.de/~ujq8/ gaucher.html an der Uni Karlsruhe zu erreichen. Andrea Wellnhofer
(andrea.sam@t-online.de)
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