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Kann denn Liebe Sünde sein?

■ Unter Juden nicht, meint „Dr. Ruth“. Sie tingelt durchs Land und bezaubert durch Schrägheit. „Der Vollzug bestimmt das Erleben des Geschlechtsaktes.“

In den Vereinigten Staaten ist Westheimer eine Institution. Sie hat eine eigene TV-Sendung und ist Vorbild hiesiger Dr. Sommers und Winters. Jetzt tritt sie, die in Deutschland geboren wurde und 1939 geflohen ist, mit ihren Botschaften hierzulande auf die Bühne. Im Vortragssaal des Jüdischen Gemeindehauses in Berlin erörtert die 68jährige zwergenwüchsige Dame 500 Neugierigen noch einmal händeringend, was sie schon reichlich oft niedergeschrieben hat: Nicht Enthaltsamkeit wie bei den Christen und anderen Religionen sei eine Tugend unter Juden, sondern – der Orgasmus. Allerdings nur am Freitag, weil das die Tradition so will.

„Himmlische Lust“ heißt ihr neues Werk, das sie eigentlich nur geschrieben habe, „damit Sie erfahren, warum ich so frei über alles reden kann“. Da ist die Rede vom Rabbi Mosche ben Nachman, der schon im mittelalterlichen Frankfurt für allerlei Geschlechtsverkehrspraktiken, neben der Missionarsstellung auch für die Hundegossenvariante, plädiert habe. Oder sie zitiert den Rabbi Simeon ben Halafta, der den Penis eines Mannes „den großen Friedensstifter des Hauses“ genannt habe. Die Sachlage ist klar: Jüdische Männer besorgen es ihren Frauen besonders gut und sind deshalb ein Garant für den Hausfrieden.

Westheimers Thesen und Missionen sind so hanebüchen, daß sie schon wieder fesseln. Im Saal hält einen ihr einnehmendes Wesen, pardon, bei der Stange. Selbst dem Moderator des Gesprächs – dem sonst nicht gerade auf den Mund gefallenen Henryk M. Broder – verschlägt es die Sprache. Und so stößt man schließlich zu äußerst brisanten Stellen im Buch vor. Unter hoffnungslos bieder mag frau ja noch abbuchen, daß sie während der Menstruation keinen Sex haben darf. Bei manchen Frauen komme das vor, daß sie „während der Menstruation vielleicht wirklich einmal sexuelle Erregung“ verspürten, aber mit vollzogenem Geschlechtsverkehr in dieser Zeit würden sie gegen ein jüdisch-orthodoxes Tabu verstoßen.

Nahezu schwachsinnig sind ihre Ansichten zur Homosexualität. Für Westheimer ein eindeutiger Fall von sexueller und krankhafter Fehlorientierung. Auch wenn sie solche „Patienten“ in ihrer alltäglichen Praxis respektiere, ist in ihrem jüngsten Werk zu lesen: „Es ist eine heikle Angelegenheit, einen Patienten auf einen Weg zu lenken, wenn diese Person die damit verbundenen Folgen vielleicht nicht bewältigen kann. Aber wenn ein traditioneller Jude mit schwulen Phantasien eben verheiratet sein soll, und wenn er sich sein ganzes Leben lang Bilder von Männern vorstellen muß, um erregt zu werden, dann sei es so, wie schwierig oder schmerzlich dies auch sein mag.“ Dr. Ruth rät: Da muß der Schwule durch. „Es ist zwar nicht bewiesen, aber manchmal ist die Libido so stark, daß der Vollzug des Geschlechtsaktes das Erleben bestimmt und der Sex auch in einem heterosexuellen Kontext genossen wird.“ Kontextueller Sex – soll da etwa wahre himmlische Lust aufkommen?

Aber es kommt noch dicker. Lots Töchter, Tamar, und Ruth – alles Frauengestalten aus dem Alten Testament – haben nach Auffassung von „Dr. Ruth“ nur deshalb durch inzestuöse Beziehungen zu ihren Vätern und Schwiegervätern die gemeinsamen Kinder ausgetragen, weil sie in diesen weiterleben wollten. Selbst Bathseba – die von König David vergewaltigt wurde, was Westheimer ihrem Bibelverständnis entsprechend zum Beischlaf relativiert – habe ihr Schicksal so betrachtet. Nach der „überwältigenden Bedrohung durch Tod und Vernichtung während des Zweiten Weltkriegs“ hätten die Juden schließlich dasselbe Verhalten gezeigt. Ihr sexuelles Wiedererwachen sei einhergegangen mit der Wiedergeburt des Staates Israel: „Die Juden heute haben ein überwältigendes Bedürfnis, sich des Lebens und ihrer sexuellen Kraft, die soviel Freude gibt, zu vergewissern.“

Bibelstunde à la Westheimer: „Ich habe nie eine Diskussion mit Rabbinern. Die machen ihre Interpretation, ich meine!“ Petra Welzel

Ruth Westheimer/Jonathan Mark: „Himmlische Lust. Liebe und Sex in der jüdischen Kultur“. Campus 1996, 192 Seiten, geb., 39,80 DM

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