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Ein Frisör als Botschafter für Oslo

Der „Blaue Planet“ gewinnt, und Nina Falk muß weiter im Finanzamt arbeiten: Schlagersänger, Liederschreiber, Produzenten und Fernsehchefs bei der Vorentscheidung zum Grand Prix d'Eurovision  ■ Von Jan Feddersen

Fünf Minuten nur noch bis zur Verkündigung. Mary Roos und Katja Ebstein, die ihre Kurzauftritte als „Glücksbringerinnen“ schon hinter sich haben, sitzen auf hartem Schulgestühl und plaudern mit André Stade, einem langhaarigen Sänger, der mit „Jeanny, wach auf“ schließlich auf dem zweiten Platz landen wird: „Wer produziert dich denn?“ Der junge Mann antwortet brav: „Jean Frankfurter“. Und Roos, die selbst zweimal am europäischen Schlagerwettbewerb teilnahm und nun in die Rolle der branchenweit verehrten Schlagerveteranin hineinwächst, nickt: „Ah ja, das ist gut.“

Nicole schlurft derweil gelangweilt durch das Foyer der Friedrich-Ebert-Halle, eine Art bessere Schulaula im Süden Hamburgs. Um Titel und Tantiemen muß sie nicht mehr kämpfen, die Saarländerin mit dem sauberen Image und dem eisernen Willen, nur noch hitverdächtiges Material zu interpretieren. 1982 gewann sie mit „Ein bißchen Frieden“ den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson im britischen Harrogate. Ihr Siegerlied trug ihr damals den Zorn der Friedensbewegten ein, doch gehört genau dieser Titel zu den achtziger Jahren wie Drafi Deutschers „Marmor, Stein und Eisen bricht“ zu den Sechzigern oder Cindy & Berts „Immer wieder sonntags“ zu den Siebzigern: Chiffren in Noten, Zeitgeist.

Nur der Mentor der Friedensbotschafterin streunt durch die Flure wie ein Schaf, das nicht weiß, ob demnächst von hinten der Wolf kommt. Ralph Siegel hat als Komponist und Produzent selbst ein Lied im Rennen: „Echos“ heißt es und wird von der aus der Volksmusik bekannten Angela Wiedl gesungen. Auch die viermalige Münchner Jodelkönigin („Ich bin bis 1997 ausgebucht“) steht unter Spannung. Ihre Hände – kalt, ihr Gesicht – maskenhaft.

Im Saal tanzt die Harburger Tanzgruppe Lauda neckisch zum Grand-Prix-Evergreen „Puppet On the String“. Die Zuschauer im Parkett tuscheln: „Die Wiedl muß gewinnen – das ist so schrill“, sagt einer. Sein Nachbar widerspricht: „Nee, damit haben wir international keine Chance“ – und wünscht André Stade zum Sieger, „weil der diesen Blick hat, den Frauen mögen“.

Draußen steht Jürgen, der aber als Leon auftritt, „weil man mit Jürgen nicht auftreten kann“. Der 26jährige hat sein Lied vor einer halben Stunde gesungen: „Blauer Planet“. Bei den Proben hatten ihn die Fachleute nicht auf der Rechnung, selbst Regisseur Sigmar Börner, der einst für „Musik aus Studio B“ verantwortlich zeichnete, hätte ihn nicht vorne erwartet.

Doch live wirkt der Mann mit seiner technoangehauchten Nummer, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht, als öffentlich sich unter Scheinwerfern zu räkeln und dabei in ein Mikrophon zu singen. Mit Leon spricht bis dahin niemand. Unumwunden gibt er zu, daß er seit seinem „zehnten Lebensjahr keinen anderen Traum“ hatte, als „einmal beim Grand Prix zu singen“.

Vor zwei Jahren hat der gelernte Frisör, der noch vor einer Woche den Lockenstab durch die Haare seiner Kundinnen drehte, einige Demobänder an Hanne Haller geschickt. Haller, die selbst als Schlagersängerin 1970 mit dem Titel „Frühling in Vietnam“ einstieg, später mit „Samstagnacht“ einen Evergreen für Schummerlokale sang und branchenintern als geniale Deuterin des Massengeschmacks gilt, ließ die „Sache in der Schublade“. Doch als sie dann gebeten wurde, zum Wettbewerb etwas beizusteuern, wollte sie, erzählt sie gut gelaunt, „einmal ein Lied schreiben, das modern ist und nicht darauf setzt, selbst alten Omas zu gefallen“. Und Leon stellte sich als guter Tänzer heraus: „Da war die Entscheidung gefallen.“ Man gab ihrem Schützling keine Chance.

Jürgen Meier-Beer, Chef der NDR-Abteilung für Fernsehunterhaltung, berichtet denn auch freimütig, daß „man am Freitag abend überwiegend mit einem Publikum rechnet, das älter als 50 ist“. Meier-Beer, selbst der klassischen Musik zugetan, aber immer bemüht, „den Massengeschmack nicht zu verachten“, hat die Veranstaltung zum NDR geholt. Der Mitteldeutsche Rundfunk hatte bis zum vergangenen Jahr die Verantwortung – wobei Fernsehdirektor Henning Röhl direkt verantwortlich zeichnete für das Lied, das mit nur einem Punkt aus Malta auf dem letzten Platz landete. Als dann auch noch Bundeskanzler Kohl über die musikalische Qualität des Songs lästerte, warfen Röhl und die Seinen den Kram hin: Beim MDR, lästerte es aus anderen ARD-Anstalten, werde schließlich nichts getan, was das Mißfallen des Regierungschefs erregen könnte.

Meier-Beer findet sich „mutig“, weil er den Wettbewerb unter die Fittiche seines Senders nahm. Er weiß noch nicht, daß ihm am Montag die Statistik 4,13 Millionen Zuschauer ausweisen wird, ein respektables Ergebnis. Jetzt, so kurz vor den TED-Ergebnissen, wirkt er so angespannt wie einer, der fürchtet, für seinen Mut verspottet zu werden: Wer traut sich schon, Schlager zur besten Sendezeit zu bringen? Andererseits: Wer weiß schon genau, was die Menschen hören? Die Verkaufszahlen aus der Musikbranche besagen, daß in allen Genres der Absatz stagniert und in Deutschland momentan nur Techno und andere Tanzmusiken gehen.

Techno ist nun aber gar nicht Ralph Siegels Sache. Warum wollen die jungen Leute von ihm nichts mehr hören? Der Mann, der seine Karriere begann, indem er Jazz komponierte, aber damit kein Geld machen konnte, und dem es seither peinlich ist, Schlager wie „Einmal verliebt, immer verliebt“ zu schreiben und damit Geld, viel Geld zu verdienen, läuft mit waidwundem Gesichtsausdruck umher. „Ein Jahr habe ich an meinem Titel gearbeitet“, hat er noch Stunden zuvor um Gnade bei den Kritikern gebettelt, „aber jedes Jahr wird man aufs Neue verrissen.“ Wer weiß schon zu würdigen, daß ein Cross-over aus Panflötenfetzen in H-Dur und gelegentlichen Jodlern „innovativ“ ist?

Sein lyrisches, wie gesagt, schrilles Lied für die Münchenerin Angela Wiedl ist tatsächlich nicht so hausbacken wie all die anderen Weltschmerzlieder, die er sonst fabriziert („Träume sind für alle da“), aber die Melodie will nicht so recht ins Ohr, das weiß er. Ganz verzweifelt war er am Nachmittag: „Werden die Leute erkennen, daß es ein schönes Lied ist?“ Immerhin: Nicole hat ihm attestiert, ein „Kunstwerk“ vollbracht zuhaben.

Vielleicht nehmen all die Beteiligten die Chose auch viel zu ernst. In Skandinavien gehören die entsprechenden Sendungen zum festen Bestandteil eines jeden Jahres. Doch in Hamburg muß es wohl so zugehen, als ginge es um alles. Fünf der zehn Interpreten haben keine Plattenverträge in der Tasche, für sie gilt es, sich zu empfehlen: Nicht für goldene Schallplatten, aber immerhin für Live-Auftritte in Bierzeiten, auf Galas und Betriebsfesten. Wer sich öffentlich als mikrosicher beweist, kann auch ohne Chartsnotierungen gut leben. Leon, der Frisör, will mehr: „Wenn nicht dieses Jahr, dann nächstes“, schwört er eine Minute vor der Siegerkür, mit harter Hand eine Strähne seines eingegelten Lockenkopfes zur Seite wischend. Seine Gestik scheint zu sagen: Ich will und ich werde gewinnen – aber ich glaube es nicht.

Dann werden die Sänger in den Saal gerufen, alle müssen sie auf die Bühne. Leon, Angela Wiedl, André Stade und auch Nina Falk, die Finanzbeamtin aus dem Württembergischen, die so gerne ganz auf das Sangeswesen umsteigen würde. Alle sollen sie sehen und die Tränen der Verlierer, die ihren Kummer beheulen. Jens Riewa, sonst Nachrichtensprecher bei der „Tagesschau“, ruft den dritten Platz auf: Angela Wiedl und ihre „Echos“ – sie guckt darob betreten; André Stade landet auf Platz zwei.

Dann der TED-Balken für den Sieger. Er wird länger und länger. 37,9 Prozent aller geschätzten 140.000 Anrufer haben Leon und seinen „Blauen Planeten“ gekürt. Der schreit: „Das gibt's doch nicht“ und nimmt Hanne Haller, die auf die Bühne gestürmt kommt, dankbar in die Arme, als sei sie seine Mutti. Küsse, Blumen – und enttäuschte Mienen andernorts. Ralph Siegel erinnert an einen Dackel, der ohne Schutzdecke in Sibirien ausgesetzt wurde. Jürgen Meier-Beer bekommt dagegen Lob: „Eine schöne Sendung“, sagt ihm ein Zuschauer, „feierlich und poppig zugleich“. Der Sendeleiter strahlt. Hat er sich doch fest vorgenommen, das Seichte („Als McDonald's-Koch ißt man ja auch nicht jeden Tag bei McDonald's“) weiterhin ernst zu nehmen.

„Leon“, der eigentlich Jürgen heißt, sagt Hanne Haller, „wird sich halten.“ Sie fühlt sich bestätigt, „mal den ganzen Wettbewerb entstaubt“ zu haben. Einmal mehr bestätigt Leons Triumph auch die Vermutung, daß auch die älteren Semester Techno mögen – nicht zuletzt der klanglichen Nähe zur Marschmusik wegen. Montag wird der Plattenverkauf beginnen. Dort muß sich erweisen, ob Leon demnächst wirklich den Frisierkamm aus der Hand legen kann: „Ich werde mir nicht nur Mühe geben“, sagt er lächelnd, „ich werde es schaffen.“

Für die meisten anderen heißt es jetzt nur noch, die frisch erworbene TV-Präsenz zu nutzen – und wenn es nur für fünf Auftritte bei Winzerfesten reicht.

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