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Friedensgezwitscher unter Bomben

■ Verteidigungsminister Gratschow spricht im Kaukasus vom Frieden und reist wieder ab. Das Sterben geht weiter

Moskau (taz) – Die Angriffe russischer Truppen auf das 45 Kilometer westlich von Grosny gelegene Dorf Sernowodsk halten unvermindert an. Augenzeugen berichteten, zahlreiche Frauen und Kinder seien getötet worden. Das Zentrum des Ortes sei zerstört, auch Schulen und das Krankenhaus seien getroffen worden. Unterschiedliche Quellen sprechen von 5.000 bis 15.000 Bewohnern, die in die Nachbarrepublik Inguschetien geflohen sind. Sogar ein Mitarbeiter der moskautreuen Regierung in Grosny sah sich veranlaßt, das brutale Vorgehen der russischen Armee zu kritisieren: „Die föderalen Truppen müssen nicht jedesmal eine breit angelegte militärische Operation vornehmen, wenn auf sie ein vereinzelter Schuß abgegeben wird.“

Unterdessen beendete Verteidigungsminister Pawel Gratschow seine Reise nach Tschetschenien ohne greifbare Ergebnisse. Zur Verwunderung der russischen Öffentlichkeit hatte er Bereitschaft signalisiert, mit dem verjagten Präsidenten Tschetscheniens, Dschochar Dudajew, zusammenzutreffen. Offenkundig lautete Gratschows Order, mit dem Friedensgezwitscher die öffentliche Meinung zu beschwichtigen. Sieben Kommissionen befassen sich derzeit im Auftrag des Präsidenten mit den Bedingungen eines Friedens im Kaukasus. In dieser Woche tritt der Sicherheitsrat beim Präsidenten zusammen. Der muß zumindest Teilresultate vorweisen, will Jelzin nicht weiter an Glaubwürdigkeit verlieren. So ist Gratschows Reise wohl auch auf den Druck des Präsidenten zurückzuführen. Denn Gratschow befürwortete von Anfang an eine gewaltsame Lösung. Scheitern die Friedensbemühungen, kann Jelzin die Schuld Gratschow und der Armeeführung zuschieben.

Die russischen Friedensbemühungen scheinen wenig glaubwürdig. Ein Mitarbeiter des Moskauer Zentrums für strategische Studien charakterisierte die Tschetschenienpolitik des Kreml: „Seit Perwomaiskoje ist klar, während sie von sieben Friedensvarianten sprechen, setzen sie ungezügelte Gewalt ein, um die Bevölkerung Tschetscheniens zu terrorisieren.“ Seit letzten November zerstöre die Armee systematisch Dorf für Dorf. „Sie haben sich für die brutalste Lösung entschieden.“ Nach Informationen aus dem Verteidigungsministerium sollen russische Einheiten im Kaukasus vor knapp drei Wochen den Befehl erhalten haben, breit angelegte Angriffe gegen Gebiete vorzunehmen, die die Anhänger Dudajews halten.

Daher auch der Versuch, Sernowodsk zu stürmen. Die offizielle Begründung, Vertreter der lokalen Verwaltung hätten mit der Regierung in Grosny ein Friedensabkommen unterzeichnen wollen und seien von den Rebellen gehindert worden, entspricht nicht den Tatsachen. Der Ort wird seit mehr als einem halben Jahr von Freischärlern kontrolliert. Da er unmittelbar neben der Dudajew- Hochburg Bamut liegt, ist er für die föderalen Einheiten von strategischer Bedeutung. Sie wollen die Versorgung der Elitekämpfer Dudajews über Sernowodsk unterbinden. Klaus-Helge Donath

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