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Erzähler I: Less is more

■ Der Amerikaner Keith Abbott las im Literaturhaus

Zwei Fähigkeiten zeichnen einen Schriftsteller aus: Eine Situation erleben und gleichzeitig betrachten zu können – so beiläufig umriß Keith Abbott am Dienstag im Literaturhaus seine Profession. Diese teilnehmende Beobachtung ermöglicht es dem Geschichtenerzähler aus Tacoma/Washington, geboren 1944, stimmige, treffende Porträts einer – eben seiner – Generation einzufangen. Der Wechselvortrag mit seinem Übersetzer Günter Ohnemus ließ erahnen, wie das in den 60er Jahren war: „growing up in the northwest“.

In dem Roman Totale Überraschung heißen die Jungen Pete und Dean, die Mädchen Lorraine, Mary Lou und Cheri. Ernstzunehmende Erwachsene kommen nicht vor. Focus der Initiationen sind die Autos, in denen man drei große Dinge erleben konnte – ersten Sex, erste Konflikte mit der Polizei und erste Bekanntschaft mit tödlicher Gefahr. Wenn Ron aus seinem Mercury steigt, zeigt sich, wie präzise Abbott beobachten und beschreiben kann: „Er holte seinen Kamm heraus, ging leicht in die Knie, damit er seine Frisur im Außenspiegel sehen konnte, fuhr sich mit dem Kamm einmal links und rechts durch die Haare und ließ die Locke in der Mitte über die Stirn fallen.“

Daß der Erlebnisradius dieser Jugendlichen trotz der Freiheit des Autofahrens bescheiden bleibt, umreißt Abbott mit wenigen Satzskizzen, ohne seine Protagonisten zu denunzieren. Sein äußerst reduzierter Realismus kommt mit knappen Worten aus: „Less is more.“ Als Mary Lou, die schwanger ist und die Schule deshalb bald verlassen wird, aus dem Klassenfenster starrt, sieht sie zwei Dinge: Bahngleise, auf denen gelegentlich Güterzüge vorbeifahren – und manchmal sitzt ein Tramp auf einem der Waggons; dann ist da noch das Altersheim. Aufbruch oder Verharren – der Blick aus dem Fenster eröffnet ihr wie dem Zuhörer die Ausblicke jeder Generation. Helfen muß sie sich selbst, entscheiden muß sie selbst. Abbotts Geschichten sind sparsam im Umgang mit Moral, mit Ratschlägen und Utopien. Wer bietet mehr?

Im Schlepptau des legendären Hippie-Autors Richard Brautigan kam Abbott zu vielen abenteuerlichen Jobs – und zum Schreiben. Beim Vorlesen einiger Gedichte wird die Last spürbar, die Brautigans Erfolg und sein Selbstmord für Abbott bedeuteten – er mußte sich freischreiben. Unterdessen lehrt er Literatur in Colorado und arbeitet daran, seine Prosa noch genauer, stilistisch karger, dichter zu machen. Ein Dichter eben.

Frauke Hamann

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