Hat Rot-Grün eine Chance?

■ SPD wankt – die Grünen müssen nicht mitwanken

Begräbnisse sollte man nicht ohne Leiche feiern. Es scheint so, als ob die vielen gutgemeinten Grabreden zum Ableben der FDP sich jetzt gegen ihre Urheber kehren. In Frage steht, ob nach diesem Wahltag Rot-Grün noch eine Chance auf Verwirklichung hat.

Reden wir nicht über die Dummheit der SPD, über das voraussehbare Scheitern ihrer national-populistischen Reden im Wahlkampf. Reden wir von gesellschaftlichen und politischen Trends. Die Wahlen zeigen erneut, daß in der „Mehrheitsklasse“ der sicher Beschäftigten, die den Sozialstaat entwickelte und trug, der Einfluß der Sozialdemokratie weiter sinkt. Im Zeichen dauerhafter Massenarbeitslosigkeit und gefährdeten Wachstums schottet sich die „Mehrheitsklasse“ ab, praktiziert Ab- und Ausgrenzung gegenüber den Unterschichten.

In dieser Perspektive erscheint Rot- Grün als ein Unternehmen, das nur in Zeiten stabiler Konjunktur Erfolg haben kann, als Umverteilungsveranstaltung, als Schönwetterprojekt. Wenn es kriselt, scheint die Mehrheit eher dem Regierungsblock zuzuneigen, der zwar den Sozialstaat abbaut, aber den Besitzstand derer, die sich in sicheren Beschäftigungsverhältnissen wähnen, im Kern schützt. Zugespitzter Ausdruck dieses Trends: Die SPD verliert weiter bei der Industriearbeiterschaft, während sie bei den Arbeitslosen gewinnt.

Das sind schlechte Aussichten für die Bündnisgrünen. Mit einer Schröder-SPD wäre so wenig wie mit der CDU ein Reformprojekt machbar. Die Lafontaine-SPD aber ist zu schwach für Reformpolitik, selbst wenn sie sie wollte. Erfreulicherweise sind jedoch politische Orientierungen mehr als ein Reflex ökonomischer Interessen. Überzeugungsarbeit Richtung „Mehrheitsklasse“ lohnt, siehe Anti-AKW- Bewegung, siehe Friedensbewegung. Wenn die gesellschaftlichen Wertvorstellungen sich ändern, werden die großen Parteien nachziehen. Nicht umgekehrt.

Zur Koalition mit der SPD gibt es keine Alternative. Aber die Grünen müssen sich darauf einlassen, eine nicht nur politisch, sondern vor allem gesellschaftlich wirksame „dritte Kraft“ zu werden. Gegenwärtig zeigt der Umgang der Bündnisgrünen mit den Sozialdemokraten mehr therapeutische als politische Züge. Mehr Selbstbewußtsein, Grüne! Christian Semler