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Ministrantenblick auf Deutschland

Versuch, im Mitschreiben die Sprachlosigkeit der Literatur angesichts der „Wende“ zu überwinden: Hanns-Josef Ortheils romantische Chronik der Jahre 1989 bis 1995 – „Blauer Weg“  ■ Von Thomas Groß

Der Kellner als Bote der Weltgeschichte: Kurz vor Mitternacht, die Herren Schriftsteller sind unter sich, berichtet er diskret, „als könne man sich an dieser Meldung verschlucken“, daß soeben in Berlin die Mauer gefallen sei – und sprengt damit den gemütlichen Teil eines Kongresses ausgerechnet über das autobiographische Schreiben.

Hanns-Josef Ortheil, der die symbolische kleine Szene erzählt, will damals, im Gegensatz zu manchem Kollegen, vom freudigen „Gefühl einer großen Bescherung“ durchdrungen gewesen sein – verschluckt hat er sich dennoch fürs erste. „Ich kann mich nicht erinnern, daß ein geschichtliches Ereignis von ähnlicher Bedeutung je von soviel Sprachlosigkeit begleitet war“, vermerkt der Autor mehrerer umfänglicher Zeitromane schon wenige Tage nach der Geisterbotschaft vom 9. November 1989, und das trifft nicht nur die Predigten der Politiker. Riiiiiiisiko! Das Gefühl, die Weltgeschichte habe unvermutet einen Sprung nach vorne gemacht, setzt auch die literarische Rede ganz neuen Anforderungen aus.

„Blauer Weg“, Ortheils jüngster Wurf, ist denn auch kein Zeitroman mehr, sondern eine lose Chronik der Jahre 1989 bis 1995, ergänzt um ein paar Briefe, Lektüre- und Reiseeindrücke sowie Bemerkungen aus der Werkstatt. Auf 500 Seiten experimentiert ein Autor mit allem, was ihm zu Gebote steht, stellt Glosse neben Porträt, soziologische Skizze neben „private“ Reflexion. An die Stelle einer erzählerischen Gesamtkonstruktion tritt die Einzelszene, überschaute Zeit mündet im Verlaufsprotokoll. Obdach und Fluchtpunkt der Erkundung ist ein Gartenhaus bei Stuttgart, idyllisch von Pflanzen überwuchert – Ortheils Locus amoenus. Dort sieht er sich, den Schriftsteller, auf der Terrasse sitzen, „und um ihn herum kreisen die Bilder der vergangenen Jahre“.

Zum Beispiel Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft. Gerade ist er aus der Tür des Rokoko- Palais getreten, vor die im Garten versammelten Flüchtlinge – Solist und Chor mit der schon legendären Nummer „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß heute Ihre Ausreise...“ Ortheil liest den Auftritt als Szene der klassischen Oper, Beethovens „Fidelio“, ein Zitat aus der revolutionären Ära des späten 18. Jahrhunderts, „und plötzlich waren auch die hohen Trompetenklänge da, und die Worte des herbeieilenden Pförtners Jaquino, atemlos, gedrängt: ,Der Herr Minister kommt an. Sein Gefolge ist schon vor dem Schloßtor.‘“

Oder, nur wenige Wochen später, Kohl bei seinem vorweihnachtlichen Spaziergang durch das Brandenburger Tor. Das Zehn- Punkte-Programm ist vorgelegt, der Fahrplan, nach dem deutsche Revolutionen stets zu verlaufen haben, hat die latent bedrohliche Masse in ein königstreues Feiertagsvolk verwandelt. Wieder eine Art Theatercoup: Das Inkommensurable der Montagsdemonstrationen, ohnehin mehr Zitat eines Aufstands, ist wie von einer geheimen Regie weginszeniert. Plötzlich sieht alles so aus, als sei das Volksbegehren immer schon darauf hinausgelaufen, den dicken Mann zu wählen – dessen unbestreitbares Talent darin besteht, diese Position zu suchen, sie auszufüllen, mögliche Oppositionen mittels purer Erscheinung abzupuffern.

Duft von Blumen und kaltem Weihrauch

In solchen Szenen macht der Text sich nicht nur an der vorgefundenen Wirklichkeit zu schaffen – die er ordnet, formt, zum Denkbild konstelliert –, er kommentiert sich auch selbst. Der im Titel angesprochene „blaue Weg“ ist der Weg der unendlichen Selbstthematisierung, der romantischen Hereinnahme der Reflexion in das Werk. Etwas von „kindlichem Schauen und Draufgucken“ kennzeichnet die Literatur, die Ortheil neuerdings vorschwebt. In längeren essayistischen Einschüben entwirft er das Programm eines nichtfiktiven Schreibens, einer Ästhetik der Schau, die mit der gewöhnlichen Publizistik konkurriert. Diese kann die Sachverhalte nur tagesgerecht aufbereiten, doch „unter dieser akkuraten Oberfläche sitzt weiter die Unruhe“.

Die Unruhe! Die es zu „seismographieren“ gilt! Man darf Ortheils romantischen Literaturtraum als Versuch verstehen, die Poesie noch einmal in ihre universalen Rechte einzusetzen, ja, der Eifer, mit dem er nach neuen Verbindlichkeiten sucht, hat selbst etwas Missionarisches. Der Sinn für Poesie habe „nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt“, heißt es bei Novalis. Bei Ortheil nun stapft ein kunstfrommer Wanderer und Seher zu Neujahr durch den Schnee der Stuttgarter Hügel, steigt, gekleidet „wie ein alter Bauer zum Kirchgang“, vom Gartenhaus ins Tal hinab, wo er Suppe ißt, sich Notizen macht und bisweilen Orgelkonzerten zu lauschen pflegt.

Ein „Duft von Blumen und kaltem Weihrauch“ durchzieht solche stillen Blätter. Und immer wieder, vor allem in der Auseinandersetzung mit Schreibweisen der Ex- DDR, ein an Trotz grenzendes Pathos des Konkreten: „Er weigerte sich zu begreifen, warum ein Kollege des Ostens, anstatt sich an seine angeblich enormen Verluste zu klammern, nicht detailliert all das beschrieb, was in seiner Umgebung vor sich ging.“

Kein schlechtes Programm für OstautorInnen. Aber genau das – detailliert beschreiben – tut Ortheil bei näherem Hinsehen auch nicht. Nur scheinbar ist der Stoff dem Begriff davongelaufen, tatsächlich fügt er sich mit fortschreitender Seitenzahl immer zwangloser einem kaum kaschierten Romantisierungswillen. Ein später Flaneur, wie ihn Ortheil in einem Brief zum langen Abschied bereits 1986 beschrieben hat, ist dieser Schreiber nicht – kaum einmal ein Eindruck, der unbequem oder gar aufsässig würde. Kein „Choc“, statt dessen Typisierungen und Archaisierungen: „Ostmensch“ und „Westmensch“ in Leipzig, Erinnerungen an den Griechischunterricht beim Goethe-Instituts-Besuch in Athen. Von Berlin hat Ortheil nicht viel mehr erhascht als ein paar alkoholselige Gottfried- Benn-Atmosphären, und in Rom, wo er als Stipendiat der Villa Massimo weilt, fasziniert ihn vor allem ein weißer Teller, „stumpf schimmernd, auf dem heute ein goldbraun leuchtendes Stück Huhn lag, das ihm irgend jemand freundlich hingestellt hatte“ – selbstredend neben „eine schlanke Karaffe mit dunkelrotem Chianti“.

Solche Genreszenen wie aus alten Gemälden wollen „Feier der Teilhabe“ sein, sie erheben im Namen der Kunst Anspruch auf das Erbe religiöser Welterfahrung – tatsächlich sind sie Kopfgeburten, Junggesellenzeugungen wie auch „das Kind“, zu dem Ortheil gegen Ende seines blauen Wegs, kein Mensch weiß wie, gekommen ist. Denn Frauen spielen auf den gesamten 500 Seiten keine Rolle – von der Mutter, mit der der Autor Reisen unternimmt, einer russisch- romantischen Briefpartnerin und den nächtlichen Huren in Rom („Sie werben für ihre Lager, und um dich einzufangen, sprengen sie Duftwasser...“) einmal abgesehen. Dafür werden ihm simple Melonen auf dem Markt zu „tropfenden Fruchtleibern“, und auch das gegrillte Steak wird eucharistisch blutend zerteilt.

„Das Kind“ ist in diesem Schema weniger profaner Hosenscheißer als Weltenkind, Zukunftszauber, Ortheils ureigenes Apfelbäumchen. Wenn ihr werdet wie die Kinder, scheint der Text zu mahnen, dann... ja dann kann auch euch Lesern vielleicht das Himmelreich auf Erden zuteil werden: ein friedvoll–romantisches Deutschland der matt erleuchteten Kerzenfenster, das der beziehungsreich am „Paradiesweg“ beheimatete Autor mit der letzten Zeile symbolisch touchiert: „Er ist jetzt zu Haus, er ist angekommen zu Haus.“

Es ist ein Traumdeutschland der Stimmungen, das Ortheil heraufbeschwört, ahndungsvoll erfühlt an Bildern, Büchern, Baumwipfeln, Gebäuden – wo immer der Blick hinüberfindet zu einem „utopischen altdeutschen Jenseits [...], an dessen Existenz man sofort glauben möchte“.

Im Beichtstuhl der Kunstgeschichte

Und weil dieses Deutschland nicht auf Politik oder Wirtschaft, sondern auf Ästhetik gebaut ist, muß es mit immer wieder anderen Bildern aus der Kulturgeschichte gespeist werden. Hoyerswerda, Rostock, die Morde von Mölln und Solingen, Stahlkrise, Trivialkultur, Pennertum, Sockelarbeitslosigkeit – bei Ortheil sind das unliebsame Randerscheinungen gegenüber seinen phantasiereichen, die Jahrhunderte überspringenden Kommunikationen mit deutschen Kaisern, Bischöfen und Päpsten.

Bilder, die natürlich zugleich Exkursionen in die Kindheit sind. In Rom erinnert er sich an das prächtige Meßgewand des Mainzer Erzbischofs Willigis, das er als Schüler im Dommuseum der Stadt gesehen hat, und auch das neue, größere Deutschland bestimmt sich – man glaubt es kaum – vom Kontrast zu der asthenischen, zerfransten Erscheinung auf der Landkarte im Klassenzimmer her. Da macht das Heute schon bessere Figur: „er stellte sich vor, wie sein eigenes Kinderauge jetzt darauf ruhte, auf diesem so ausgeglichenen und rund erscheinenden Gebilde“.

Kein Wunder, daß immer wieder Helmut Kohl durch dieses Buch geistert. Es ist ein Ministrantenblick, der bei Ortheil auf die Welt fällt, ein katholizistisch ausschweifender, aber auch latent subalterner Wahrnehmungsmodus, der im weltlichen immer zugleich den kirchlichen Würdenträger imaginiert. Und kennen so Leute nicht ihre Schäfchen? „Da bist du also wieder“, murmelt Ortheil der von Velazquez gemalte, gestreng dreinblickende Papst Innozenz X. von einer römischen Leinwand herab zu, „hast dich herumgetrieben, hast deine Zeit vertan“ – der Autor als Sünder im säkularen Beichtstuhl der Kunstgeschichte. Der alte Trick funktioniert noch: „Ich verneige mich und verlasse langsam das Kabinett.“

Die eigentliche Unio mystica aber vollzieht sich im Berliner Hotel Kempinski. Ist's Wahrheit oder Dichtung, daß Ortheil dort, auf später Jagd nach einem Schlummertrunk, den leibhaftigen Kanzler getroffen haben will? „Wo kommen Sie denn her?“ fragt die Kohl-Figur jovial, wie wohl ein Kirchenfürst seinen alten Oberministranten begrüßen mag. Und Ortheil, der Kohl ja noch von seinen Zeiten als Ministerpräsident in den Gassen und Schankwirtschaften der alten Bischofsstadt her kennt, weiß dem Herrn nur ergriffen zu antworten: „Ich komme aus Mainz“.

Und siehe, da erkannten sie sich. Was aber das Schönste, Allerrundeste ist: Wieder ist es ein Kellner, der den weltgeschichtlichen Moment besiegelt.

Auf Geheiß des Kanzlers serviert er zwei Glas Deinhard Rosé, mit denen gemeinsam angestoßen wird: auf Mainz, auf alles Verbindende, vor allem aber auf jene Gegenden, wo Blau in Schwarz übergeht – „die tiefsten, fernsten Meerestiefen“.

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