Atom-Guerilla in der Todeszone

Das alte Feuerwehrhaus ist sein Hauptquartier. In der Todeszone arbeitet Juri Jegorowitsch Sergejew, Chef der mobilen Liqidatorentruppe gegen die Strahlung und die Betreiber des AKW.  ■ Aus Tschernobyl Susan Boos

Wladimir Iwanowitsch Ussatenko ist ein mittelgrosser, etwa fünfzigjähriger, drahtiger Mann mit blauen Augen und einem steten Lächeln. Das Auffallendste an dem Mann ist sein unterwürfiges Verhalten. Begegnet er einem Polizisten oder einem Abgeordneten, zieht er den Kopf ein, grüßt schuldbewußt lächelnd, reibt verlegen die Hände. Doch später, als wir einige dieser Machtträger kennenlernten, merkten wir, daß ihnen das Blut in den Adern gefriert, wenn der Name Ussatenko fällt.

Offiziell agiert Ussatenko als vollamtlicher Berater der Tschernobyl-Kommission des ukrainischen Parlaments. Er residiert im dritten Stock des Kommissionsgebäudes in Kiew, im letzten Kämmerchen des abgelegensten Flurs. Ussatenko sitzt an seinem Computer und raucht, obgleich im Kommissionsgebäude striktes Rauchverbot gilt, und blättert in einem Buch mit Zahlen und Tabellen.

Man messe jedes Jahr an verschiedenen Orten im ganzen Land die Radioaktivität, sagt er. „Die Zahlen sind absolut nutzlos. Hier haben wir zum Beispiel in einem Dorf 1991 den Wert von 0,68 Curie pro Quadratkilometer, 1992 waren es 7,2 Curie, 1993 0,97; die Kontaminierung der Milch blieb dort jedoch immer konstant. Diese Meßergebnisse machen aufgrund der extremen Schwankungen keinen Sinn. Wir können aber nicht einmal überprüfen, wie es zu den widersprüchlichen Ergebnissen kam, denn wir wissen nicht, wer die Proben gesammelt hat, ob sie immer an derselben Stelle, auf dieselbe Weise genommen wurden und wo sie heute aufbewahrt werden. Ich bin davon überzeugt, daß viele dieser Daten gegen Bezahlung gefälscht wurden. Manche Leute möchten in einem für kontaminiert erklärten Gebiet leben, um Kompensationszahlungen zu erhalten. Andere wünschen, daß ihre Gegend als sauber deklariert wird, weil sie dann ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse besser absetzen können.“

Die Meßergebnisse werden vom ukrainischen Gesundheitsministerium publiziert – auf diesen Zahlen basieren alle wissenschaftlichen Untersuchungen und die politischen Entscheidungen.

Die Tschernobyl-Kommission beklagte sich schon bei Staatspräsident Leonid Kutschma über ihren Berater Ussatenko, der sie nicht in ihrem Sinn und Geist unterrichte. „Loswerden können sie mich nicht, ich genieße während dieser Legislaturperiode parlamentarische Immunität, aber sie versuchen mich kaltzustellen.“

Ussatenko beschließt, uns sein Tschernobyl zu zeigen. Er beantragt beim Kommissionspräsidenten Wolodimir Jazenko die Genehmigung für einen Besuch der Zone. Jazenko verweigert sie.

Ussatenko sagt lakonisch, er bringe eben immer zuviel Material zurück – doch er habe Freunde in der Sperrzone. Er sagt „Zone“ und meint Tschernobyl, wie das alle Liquidatoren tun. „Zone“, manchmal klingt das Wort liebevoll, manchmal ehrfürchtig, manchmal nach Hades, wo sich die Schatten der Toten sammeln.

Morgens um sieben holen wir ihn in Abalon, einem öd-modernen Kiewer Schlafquartier, ab. Es nieselt. Um acht Uhr dreißig erreichen wir den Checkpoint Ditjatki. Die Soldaten drücken sich gelangweilt unters Vordach des Wachhäuschens. Wir warten.

Drei lange Sattelschlepper, beladen mit Holzstämmen, wollen die Zone verlassen. Zwei Lastwagen mit Betonelementen, so groß, daß ein Campinganhänger darin Platz fände, möchten ebenfalls raus. Ein Mann klettert auf die Ladungen, fährt mit einem Strahlenmeßgerät über die Stämme, die Betonelemente.

Schließlich hebt sich der rot- weiße Schlagbaum. Die Laster fahren in Richtung Kiew davon. „Dieses Holz wird irgendwo auf dem freien Markt wieder auftauchen. Irgendwer wird damit sein Haus oder seine Datscha bauen“, meint Ussatenko, „die Baumstämme können sauber sein, vielleicht sind sie aber auch hochkontaminiert. Mit dem Meßgerät hier läßt sich das nicht feststellen.“

Um neun Uhr zehn parkt der Fahrer von Ussatenkos Freund seinen weißen Wolga auf der anderen Seite des Schlagbaums. Er kommt an den Soldaten vorbei auf uns zu, begrüßt Ussatenko und überreicht uns gestempelte und unterschriebene Papiere. Wir tragen unsere Namen ein. Ab sofort sind wir Angestellte der SPMK, der „Mobilen Dekontaminierungseinheit“.

Der Soldat im Häuschen wirft einen Blick auf unsere Pässe, wundert sich nicht und stellt uns anstandslos Passierscheine aus. Wir betreten die Dreißig-Kilometer- Zone.

Nach dem Unfall erklärte man ein Gebiet im Umkreis von ungefähr dreißig Kilometern um das AKW zur sogenannten Todeszone. Die Bevölkerung mußte das Gebiet verlassen, man errichtete einen Stacheldrahtzaun. Der Zutritt ist seither nur noch mit einer Bewilligung und an wenigen, von Soldaten bewachten Checkpoints möglich.

Innerhalb dieser Zone existiert eine zweite, ebenfalls bewacht und mit einem Stacheldrahtzaun abgesperrt, die Zehn-Kilometer-Zone um den AKW-Komplex und die Stadt Pripjat. Für den Zutritt zu diesem extrem kontaminierten Gebiet braucht es eine weitere Bewilligung. Auch dürfen nur speziell gekennzeichnete Autos in der Zehn-Kilometer-Zone verkehren, die wiederum die äußere Zone nicht verlassen dürfen, weil sie zu stark verstrahlt sind.

Der Wolga prescht durch das verlassene Land, biegt vor dem Dorf Tschernobyl, das sich knapp dreißig Kilometer vom AKW entfernt befindet, links ab. Auf dem Feld liegt ein ausgebrannter Helikopter. Der Chauffeur bremst vor dem Schlagbaum der Zehn-Kilometer-Zone, überreicht dem Soldaten unsere Passierscheine. Der Schlagbaum hebt sich. Wir fahren am Sarkophag vorbei, hinein nach Pripjat, der Stadt der AKW-Angestellten. Fünfzigtausend Menschen haben hier einmal gelebt. Das Schwimmbad und die Sauna funktionieren immer noch, sagt der Fahrer.

Er stoppt den Wagen vor einem zweistöckigen Gebäude. Eine beleibte Frau in weißer Rüschenbluse begrüßt uns wie alte Bekannte und führt uns in ein großes Büro im oberen Stockwerk. Es ist das Reich von Juri Jegorowitsch Sergejew, dem Chef der SPMK.

„Ihr befindet euch im ehemaligen Feuerwehrgebäude von Pripjat. Noch nie waren Journalisten hier. In diesem Haus starb nach dem Unfall der erste Feuerwehrmann“, begrüßt uns Sergejew. Sein Gesicht ist grau, die rotunterlaufenen Augen wirken müde und gehetzt zugleich. Vor dem Unfall war er Ingenieur im AKW, nach dem Unfall arbeitete er als Liquidator, und er ist immer noch in der Zone. Er gehört zu den Männern, die sie kaum freiwillig verlassen. Ussatenko sagt: „Sergejew war der erste, der offen ausgesprochen hat, daß die Liquidierung, wie sie gegenwärtig betrieben wird, völlig unsinnig ist.“

Hinter dem Wort „Liquidierung“ verbirgt sich heute eine relativ banale Arbeit: Um zu verhindern, daß in den verlassenen Dörfern, den Wäldern und verwilderten Feldern immer wieder Feuer ausbrechen, müssen die Dörfer bewacht, Schneisen durch den Wald geschlagen, neue Straßen angelegt und alte unterhalten werden. Die Liquidierung beschränkt sich in erster Linie auf Brandprävention und -bekämpfung, weil durch das Feuer Radionuklide in die Atmosphäre gelangen.

Um die achthundert „Gräber“, in die man kurz nach der Havarie den Auswurf und all das radioaktive Material vergraben hat, kümmert man sich jedoch nicht. Diese Halden sind nicht speziell gesichert, und das Gebiet um Tschernobyl ist sumpfig. Man müßte deshalb den radioaktiven Abfall sofort herausholen, weil er das Grundwasser bedroht, doch fehlt eine vernünftige Langzeit-Lagerstätte – darum läßt man das Zeug einfach liegen.

„Sie geben Millionen von Dollars aus – niemand weiß, wofür“, Sergejew zuckt die Schultern. „Von den Materialien, die für uns bestimmt waren, kommt beispielsweise kaum etwas hier an, und was bis zu uns gelangt, wird sowieso binnen weniger Tagen gestohlen.“

Sergejew nimmt ein dickes Bündel Papiere aus einer Schublade seines Schreibtischs: „Das ist die Inventarliste der Zone von 1986. Einige hochkontaminierte Geräte wurden vergraben. Der große Rest ist verschwunden – gestohlen. Schaut euch in den Wohnungen von Pripjat um. Die Leute mußten alles zurücklassen. Sie durften nichts mitnehmen. Heute sind sämtliche Wohnungen leer. Alles wurde geklaut.“ „Am Stadtrand von Pripjat gab es einen Autofriedhof für die hochkontaminierten Personenwagen. Wir nennen den Platz „Feld der Auferstehung“ – alle Autos sind verschwunden“, sagt Ussatenko.

Sergejew drückt auf einen Knopf unter seinem Pult. Seine Sekretärin eilt herein. Er befiehlt ihr, das Mittagessen aufzutragen.

„In der Zone arbeiten heute etwa fünfzehntausend Personen. Gut sechstausend sind im AKW, zweitausend sind mit der Liquidierung beschäftigt“, sagt Sergejew. „Was tun die anderen?“ frage ich. „Ich weiß es nicht. Allein in der Administration von Pripjat arbeiten fünftausend Leute. Ich habe keine Ahnung, was die machen. Jeder versucht sich einen Job in der Zone zu organisieren, weil man hier außerordentlich gut verdient und viele Privilegien genießt. Eigentlich würde es ja nur darum gehen, eine minimale Infrastruktur aufrechtzuerhalten, damit sich die Strahlung nicht ausbreitet – dafür würden dreitausend Leute ausreichen.“

„Die Wissenschaftler reden von Migration der Radionuklide. Sie meinen damit die Wanderung strahlender Partikel durch physikalische und chemische Prozesse im Wasser, in der Luft oder der Erde“, erklärt Ussatenko, „doch aus dem Sperrgebiet migrieren die Radionuklide vor allem auf Rädern. Jeder hat seine bestechlichen Bekannten unter den Soldaten und kann aus der Zone bringen, was immer ihm beliebt. Die kontaminierte Ware wird an Leute verkauft, die keine Ahnung haben, woher sie stammt.“

Die Sekretärin deckt den Tisch. Sergejew ordert Mineralwasser.

„Wir leben in der Hoffnung, etwas verhindern zu können“, sagt Ussatenko und schaut Juri Sergejew bewundernd, fast liebevoll an. „Was wird, wenn Juri nicht mehr da ist, wer hat seine Erfahrung?“

Sergejew lächelt verlegen. Seine Gesundheit sei nicht die beste, aber er sage sich, wenn er eines Morgens aufstehe und keine Schmerzen mehr verspüre, dann könne er nur tot sein. Er werde bleiben. „Unsere wichtigste Aufgabe ist es, alles zu tun, damit dieses AKW stillgelegt wird. Block drei müßte sowieso abgestellt werden, weil er mit dem geborstenen Reaktor zusammengebaut ist. Block eins ist alt und in einem katastrophal schlechten Zustand. Sie müssen ihn sofort vom Netz nehmen. Alles andere wäre kriminell.“

Die Sekretärin trägt Kartoffelstock, Fleischragout und Sauce, Essiggemüse und Wurst auf. Sergejew öffnet eine Flasche Wodka. Wir stoßen an, leeren das Glas in einem Zug. Durchs Fenster sieht man ein schwarzgeteertes Flachdach, dahinter dunkle Tannen. Es ist kein gewöhnliches Dach, es sind keine gewöhnlichen Tannen. Wir sind in Pripjat, einem der unheimlichsten Orte auf Erden. Drei Kilometer entfernt steht der Sarkophag, wir sitzen hinter bewachten Stacheldrahtzäunen, machen ein Seelein ins Kartoffelpüree, und Sergejew, der Chef der Aufräumtruppe, sagt: „Ich bin hier, um Tschernobyl zu stoppen.“

Sergejew war selbst ein Atomschtschik, ein überzeugtes Mitglied der Atomgemeinde. Block vier hat ihn vom Glauben abgebracht. Er mußte auf dem Dach von Block drei das hochradioaktive Graphit wegräumen, das die Explosion dorthin geschleudert hatte. „Wir wollten das Dach mit Hilfe von japanischen Robotern säubern, weil die Strahlung dort oben so hoch war. Diese Roboter waren sehr teuer gewesen. Schon nach zwei Minuten funktionierten sie nicht mehr. Die starke Strahlung hat ihre Elektronik gleich lahmgelegt. Da setzten wir halt „Bioroboter“ ein. Männer, oft junge Männer, nur mit einer Bleischürze ausgerüstet, um die Genitalien zu schützen.

Als man Block drei von Block vier abhängte, war Sergejew Chefingenieur. Die beiden Blöcke nutzten zahlreiche wichtige Systeme

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gemeinsam. „Mich machten sie für den Start von Block drei verantwortlich – sie wollten ihn unbedingt wieder am Netz haben. Wie viele Leute deswegen durch die Strahlung verbrannten, interessierte niemanden. Sie wollten aller Welt zeigen: Es ist nicht so schlimm, Block drei funktioniert ja immer noch.“

Sergejew schenkt Wodka nach, klingelt nach der Sekretärin und verlangt Kaffee.

„Wenn Tschernobyl vergessen wird, werden überall neue Atomkraftwerke gebaut“, sagt er. „Als wir mit dem Bau des ersten Blocks anfingen, kam ein alter Mann, der schon immer hier gelebt hat, und sagte: Ihr habt den falschen Platz für euer AKW gewählt – das ist ein Ort des Teufels. Man hat ihn ausgelacht.“ Die Bauern und Bäuerinnen der Gegend glauben heute, der Unfall sei eine Strafe Gottes gewesen. Sergejew glaubt es auch.

Der kranke Mann harrt aus wie ein heiliger Wahnsinniger. Er sagt, es gebe etwa hundert Leute in der Zone, die bereit seien, ihm bedingungslos zu folgen – „in unserer Situation ist das sehr viel“.

Das alte Feuerwehrgebäude ist sein Hauptquartier. Hier herrscht und befiehlt er. Die SPMK ist seine ihm loyal ergebene Guerillaeinheit, Ussatenko sein Verbindungsmann in die andere Welt.

Wenn Sergejew seinen Leuten sagt, sie sollten die „Abteilung für internationale Kontakte“ – die Internationalen, wie er sie spöttisch bezeichnet – austricksen, um AusländerInnen illegal in die Zone zu bringen, tun sie es. Und sie tun es gern. Weil die Internationalen identisch sind mit dem Geheimdienst, mit dem ehemaligen KGB. Die Sicherheit der Atomanlagen unterstand in der UdSSR dem KGB, und die Strukturen sind bis heute die gleichen geblieben.

Die Internationalen würden den AusländerInnen ein geschöntes Bild von Tschernobyl vermitteln, sagen sie – wie einst Früst Grigori Potemkin vor zweihundert Jahren Katharina der Großen auf ihrer Krimreise mit Dorfattrappen falsche Tatsachen vorgegaukelt habe.

„Tschernobyl ist anders als Hiroshima oder Nagasaki. Dort gab es einen Blitz, eine einmalige Strahlendosis. Hier haben wir es mit sehr vielen verschiedenen Radionukliden zu tun. Und der Boden strahlt; die Menschen nehmen die strahlenden Partikel mit dem Essen oder über die Atemluft auf – ein langandauernder Prozess“, verabschiedet sich Sergejew. Es klingt, als ob er uns sagen möchte, daß er nicht mehr lange durchhält.

Sergejews Chauffeur fährt uns im Wolga zu Jupiter. Schwarz-weiß gefleckte, große Hunde liegen auf dem überwucherten Kiesplatz. Mitten in Pripjat steht ein Betrieb mit riesigen Fabrikationshallen.

„Jupiter hat seit dem 26. April 1986 die Produktion nie eingestellt“, Chefingenieur Anatoli Degterenko führt uns fröhlich durch das Werk. Er ist etwa vierzig, sportlich und gutaussehend, mit Krawatte, militärgrüner Arbeitskleidung und einer Wodkafahne. Degterenko arbeitet seit acht Jahren bei Jupiter, er fühle sich gut, die Arbeit sei interessant, die Löhne seien zweieinhalbmal so hoch wie in Kiew; er verdient 220 Dollar im Monat.

Jupiter stellt Ersatzteile für Atomkraftwerke her. Nicht nur für Tschernobyl, auch für die vier anderen ukrainischen AKW-Komplexe mit insgesamt zwölf Reaktoren. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, daß Jupiter ausgerechnet in Pripjat produziert, doch darüber mag Degterenko nicht diskutieren. Er sagt, ein bißchen Strahlung erhöhe die Potenz. Am Kragen trägt er einen kleinen schwarzen Knopf, ein Dosimeter, er kontrolliere es nicht regelmäßig. Es gebe viele Leute, die hier arbeiten möchten.

Degterenko will uns die Luna- Roboter zeigen. Wir spazieren durch ein Eibenwäldchen. Unter den Bäumen wachsen Fliegenpilze. Auf dem Parkplatz hinter dem Fliegenpilzwäldchen stehen sie, die japanischen und russischen Roboter, deren Elektronik der hohen Strahlung nicht standhielt. Niedliche Gefährte, die auch in „Star Trek“ auftreten könnten. Einige liegen auf der Seite, ausgeweidet wie tote Tiere.

Ein hagerer Arbeiter nimmt sein Dosimeter hervor und hält es an einen japanischen Roboter. Die Ziffern auf dem Monitor rasen. Das Dosimeter beginnt wild zu pfeifen, auf dem Monitor sind nur noch Hieroglyphen zu sehen. Mehr als 20.000 Mikroröntgen pro Stunde kann das Gerät nicht messen. Der Arbeiter lacht: „Kommt her, wir machen ein Foto. Eine niedrige Strahlendosis ist gesund. Schaut uns doch an, sehen wir anormal aus, sind wir Mutanten?“ Wir lachen. „Meine Frau hat nichts an mir auszusetzen. Selbst junge Frauen schauen mich noch an.“ Wir lachen.

Ein Mann in einer zerschlissenen Militärjacke präsentiert uns große, makellose Pilze. Die habe er am Stadtrand von Pripjat gesammelt, sagt er zufrieden. „Und was werden Sie damit tun?“ – „Essen.“ – „Essen?“ – „Natürlich! Was sonst!“ Er begreift die Frage nicht.

Im weißen Wolga verlassen wir Pripjat. Die Sonne geht unter. Die kleinen Föhren und die dreieckigen Radioaktivitätswarnschilder werfen kaum mehr Schatten. Auf dem Weg zur Zonengrenze überfahren wir eine Eule, der Fahrer zuckt mit den Schultern, das komme häufig vor, die Tiere verhielten sich etwas seltsam.

Der dritte im Bunde mit Sergejew und Ussatenko heißt Wladimir Schtscherbina. Er ist im wissenschaftlichen und technischen Zentrum Ukrytie der ukrainischen Akademie der Wissenschaften als stellvertretender Direktor der „Abteilung für nukleare und radiologische Sicherheit“ tätig. Ukrytie kann mit Versteck, Bunker oder Schutzraum übersetzt werden, die UkrainerInnen bezeichnen damit den Sarkophag. Niemand kennt den Sarkophag besser als Schtscherbina.

Doch Schtscherbina zu treffen ist nicht einfach. Sein Büro befindet sich in Tschernobyl, einige Straßen von der „Abteilung für internationale Kontakte“ entfernt. Über die Internationalen kommt man nicht an ihn heran, und sich ohne offizielle Begleitung in Tschernobyl zu bewegen ist kaum möglich. Ussatenko organisiert eine zweite illegale Reise in die Zone.

Wasili Guzik, Sergejews erster Ingenieur, holt uns am Checkpoint Ditjatki ab. Der wachhabende Offizier gehört diesmal nicht zu Sergejews Freunden, ohne offizielle Bewilligung will er uns nicht einlassen. Guzik diskutiert, streitet, droht. Uns rät er, niemandem zu sagen, daß Ussatenko uns geschickt hat, die Internationalen bekämen sonst einen Tobsuchtsanfall. Nach einer einstündigen Zankerei und mehreren Telefongesprächen läßt uns der Soldat zornig passieren.

Wir besuchen Wladimir Schtscherbina in seinem kleinen, mit Bechern und Papieren vollgestopften Büro. Der rundliche Mann, auch er im Tarnanzug, mit Krawatte und einem Kamm in der Brusttasche, kommt sofort zur Sache: „Der Unfall wird total etwa eine Billion Dollar kosten.“ Eine Billion hat zwölf Nullen. „Tschernobyl bis ins Jahr 2010 weiter zu betreiben bringt unserem Land einen Reinverlust von zehn Milliarden Dollar. Es wäre, rein ökonomisch betrachtet, sehr viel günstiger, wenn man das Werk unverzüglich abstellen würde. Selbst wenn man berücksichtigt, daß der Unterhalt eines stillgelegten AKW noch auf Jahre einiges kostet, wäre es billiger. Früher arbeiteten in Block eins von Tschernobyl tausend Personen, heute sind es zum Beispiel dreitausend.“ Ein höherer Sicherheitsstandard erfordere mehr Personal, und die Angestellten könnten mehr Freizeit beanspruchen, da sich ihr Arbeitsplatz auf kontaminiertem Gebiet befinde.

Die Betriebskosten von Tschernobyl sind zwar immer noch geheim. Schtscherbina aber ist seit dreißig Jahren im AKW-Bereich tätig und seit sieben Jahren in Tschernobyl. Er kennt die Rentabilitätsrechnungen.

Die Wahrscheinlichkeit eines gravierenden Unfalls im Sarkophag betrage 10-3, man rechnet damit, daß einmal in tausend Jahren ein Unfall passiert. Bricht der Sarkophag zusammen, kann er Block drei mitreißen: „Das Desaster wäre vermutlich größer als jenes vom April 1986. Die Radioaktivität in Block drei ist viel höher als im Sarkophag. Wenn der Reaktor Strom produziert, ist sie hunderttausendmal, wenn er stillsteht, immer noch tausendmal höher“, sagt Schtscherbina.

Spätestens seit Beginn der neunziger Jahre weiß man, welche Gefahr vom Sarkophag ausgeht: Der Deckel des Reaktordruckgefäßes, der zusammen mit den Dampfröhren zweitausend Tonnen wiegt, wurde durch die Explosion weggedrückt und hängt nun fast senkrecht in den Reaktor hinein. Eine schwere Erschütterung könnte dazu führen, daß er mit seinem Gewicht von etwa sechzehn Lokomotiven auf den geschmolzenen Kern hinunterfällt.

Das AKW befindet sich in einer Erdbebenzone. Am 30. und 31. Mai 1990 erschütterten zwei Beben der Stärke vier das Gebiet und beschädigten tragende Konstruktionen unter dem Sarkophag.

Der ganze Sarkophag wurde nie nachkontrolliert, weil man die Arbeiten wegen der hohen Strahlung ferngesteuert ausführen mußte. Man hat keine Ahnung, wie stabil das Bauwerk tatsächlich ist. Der Sarkophag könnte teilweise oder ganz in sich zusammenstürzen, wobei beachtliche Mengen an Radioaktivität freigesetzt werden.

„Meiner Meinung nach müßte man Block drei sofort abstellen“, sagt Schtscherbina. Er sorgt sich aber auch um Block eins, der ebenfalls noch am Netz ist und mit Block zwei zusammenhängt. Die beiden Blöcke sind identisch konstruiert. Nach einem Brand im Maschinenraum wurde Block zwei 1991 stillgelegt, auch er soll aber 1996 wieder ans Netz.

„Block eins war ein Vorläufermodell von Block drei und vier. Die Konstruktion ist veraltet, der Reaktor läßt sich nicht aufrüsten. Daher ist er zehnmal gefährlicher als Block drei. Doch da dieser mit dem Sarkophag zusammenhängt, geht von beiden Reaktoren eine vergleichbare Gefahr aus.“

„Also müßte Block eins auch unverzüglich abgestellt werden“ – „logisch“, sagt Schtscherbina.

Susan Boos hat monatelang vor Ort in Tschernobyl, Kiew und Minsk recherchiert. Im April erscheint ihr Buch „Beherrschtes Entsetzen. Das Leben in der Ukraine zehn Jahre nach Tschernobyl“.