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Die „Zone“ lebt weiter

Stippvisite im atomaren Disneyland: Flüchtlinge aus der gesamten GUS, Besucherströme, proppere Hirsche und strahlende Waldbrände  ■ Aus Tschernobyl Barbara Kerneck

Aus dem Recorder tönt „Speedy Gonzales“. Der freundliche Barmann im Motel der Siedlung Seljony Mys strebt nach Hause, ins 100 Kilometer entfernte Kiew. Bloß ein paar übriggebliebene Flaschen Budweiser und Wodka möchte er noch an Ort und Stelle losschlagen. Wir haben Mitte März. Heute sind die TeilnehmerInnen einer mehrtägigen internationalen Konferenz im Vorfeld des zehnten Jahrestages der Reaktorhavarie abgereist. Ihretwegen ließ die Agentur „Tschernobyl Inter-Info“ die Bar vorübergehend öffnen.

In der offiziell so genannten „Absonderungs-Zone“, die einst 130.000 Menschen Wohnung und Arbeit bot, arbeiten jetzt noch etwa 13.000 Angestellte. Die Hälfte untersteht dem AKW, die andere der „Administration“. Anwesend sind jeweils nur die „Wachthabenden“. Die Restlichen regenerieren sich tage- oder wochenlang jenseits des Stacheldrahts. Der „Administration“ untersteht alles in der 30-Kilometer-Sperrzone um den Reaktor, auch die Agentur „Inter- Info“ und das Motel knapp außerhalb der Zone.

Daß unsere Mini-Gruppe westlicher Korrespondentinnen ein gut ausgearbeitetes Touristik-Repertoire erwartet, darauf haben uns Freude von den Grünen in Kiew vorbereitet: „Eure Wege durch die Zone werden, soweit möglich, durch strahlungsarme Gebiete führen, wie durch gläserne Korridore. Dort haben wir manchmal weniger gemessen als in Kiew“.

Zum offiziellen Programm kommt der Selbstdarstellungsdrang der Einheimischen. Kurz vor dem Zonen-Schlagbaum, im Dorf Medwin, treffen wir zwei greise Zwillingsschwestern in malerischen Kopftüchern. Ein knackiger Großvater zieht zwei Wassereimer auf einem Schlitten spazieren. „Merkwürdig“, murmelt die junge Frau, die uns für Inter-Info führt: „Kaum hält hier ein Besucher-Bus, kommen sie hervor!“

Eine halbe Stunde Fahrt jenseits des Schlagbaums und noch 15 Kilometer vom Kraftwerk entfernt liegt Tschernobyl. Die meisten, aber nicht alle Fenster sind hier blind. Die „sichersten“ Gebäude dienen heute der „Administration“ als Büros und ihren MitarbeiterInnen als Wohnheime – während ihrer Schichten von jeweils 14 Tagen in der „Zone“. Im Generalstab von Inter-Info äußern wir unsere Besichtigungswünsche. Den „Sarkophag?“ Die Laboratorien? Eine Versuchsfarm? Bittesehr! Man wird uns in drei Tagen alles zeigen. An welchen Stellen allerdings, darüber entscheidet die Administration.

„Der Chef hier bin ich!“ erklärt Tatjana Plotko. Die stämmige Dreiundfünfzigjährige kommandiert als Forst-Abteilungsleiterin mit glasmurmelblauem Blick vierundzwanzig Waldarbeiter. Im Gegensatz zu ihren Untergebenen übernachtet sie nicht auf der Forststation: „Das gehört sich nicht.“ Dank ihrer Sonderstellung legt sie den Weg zwischen der eigenen Hütte und der Arbeitsstelle auf dem staatlichen Forsttraktor zurück. 10.000 Hektar Wald sind der Reichtum der „Zone“. Ihn nicht zu nutzen, bedeutete Millionenverluste. Also wird er gefällt und verkauft. Dabei findet Tatjana nichts Böses. Auch wenn sie bei ihrer Arbeit bisweilen Mundschutz gegen verstrahlten Staub tragen muß, führt sie ihre augenscheinliche Kraft und Gesundheit auf die Symbiose mit diesem Wald zurück.

Plotkos Hauptaufgabe bildet die Brandverhütung. Vor sechs Jahren, so berichtet sie mit sich rundenden Augen, hat es hier einen gewaltigen Waldbrand gegeben: „Eieiei!“ Um solches künfig zu verhindern, haben Tatjana und ihre Kollegen 12 Kilometer Sandschneisen von 50 Meter Breite gerodet. Trotzdem geht immer wieder ein Fleckchen in Flammen auf. Anstelle der verbrannten Bäume grünen heute saftige Schonungen. Was uns die Försterin zu sagen vergißt: Bei jedem Waldbrand steigt die Strahlungsbelastung im betroffenen Revier auf das Zehnfache.

Von „sehr gefährlichen“ Hunde-Wölfen erzählt uns die Försterin. Sie tauchten in der Zone auf, nachdem der Mensch verschwand. Das seien keine Mutationen, sondern Kreuzungen zwischen verwilderten Hunden und Wölfen. Niemand, den wir trafen, auch nicht

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Tatjana selbst, hat sie persönlichgesehen. Sie sollen ohne natürliche Scheu vor dem Menschen sein, wie die Hunde, dabei aber raubgierig wie die Wölfe. Trotzdem gewinnt heute Großwild in der Zone Oberwasser. „Für unsere Nachkommen wird das ein Paradies!“ verkündet Tatjana siegesgewiß. Es muß sich um sehr entfernte Nachfahren handeln. Die langlebigen Radionukleide, die die Zone heute verseuchen, brauchen einige Dutzend Jahrtausende, um zu zerfallen.

Nicht an die Zukunft, wohl aber an ein menschenwürdiges Leben in der Gegenwart dachten die „Samosjoly“, als sie sich hier wieder niederließen. Das Wort bedeutet übersetzt „SelbstsiedlerInnen“. Heute sind es etwa sechshundert alte Menschen, die in ihren ehemaligen Häusern in der Zone wohnen. In der Enge der fix zusammengeschusterten Neubauten, die man nach dem Unfall für diese Evakuierten errichtete, hielten sie es nicht aus. Sie kamen zurück, durch die Stacheldrahtzäune und über die Flüsse. Die Miliz evakuierte sie erneut: einmal, zweimal – vergebens.

„Seit einem Jahr dürfen wir hier ganz offiziell unseren eigenen Tod sterben“, sagt die 71jährige Olga Sawenok. Im Winter schläft sie gern auf dem gewaltigen Familien- Kachelofen. Mit ihrem Mann Sergej und dem Pferd Mascha bildet sie eine der fünf Parteien Im Dorf Terechi, ehemals bewohnt von 250 EinwohnerInnen. Zweimal in der Woche kommt ein Bus und bringt Salz, Streichhölzer und Brot. Und wie ernähren sie sich sonst? „Na, natürlich vom Selbstangebauten und von unseren Hühnerchen, wenn doch die Rente gerade fürs Brot reicht“, sagt Olga. „Vor der Strahlung fürchten wir uns überhaupt nicht, uns fressen unsere Nerven auf – die Sorge um die Enkel“, erläutert sie.

Außer den inzwischen anerkannten Samosjely, gibt es in der Zone auch nichtregistrierte Einsiedler, GUS-Bürgerkriegsflüchtlinge, Landstreicher und Deserteure. Sie treten einander kaum je zu nahe. Olga beklagt sich nur über „unverschämte Wildschweine“, die ihr alle Kartoffeln ausgraben. Wo die moderne Gesellschaft vor ihrer eigenen Technologie floh, werden Tiere und Menschen wieder gleichberechtigt.

Kleine, in der Erde lebende Tiere, haben jetzt in der Zone eine schwere Zeit , erklärte mir der Zoologe und Zonen-Spezialist Vitali Gajtschenko in Kiew: Die Mäuse verkümmern zusehends und vermehren sich sofort nach der Geschlechtsreife. Ihr zarter Knochenbau ist dann Schwangerschaften noch nicht gewachsen. Dafür geht es vorläufig dem hochradioakiven Großwild gut: Wildschweinen, Elchen, Wölfen und Rehen. Damit meine ich die Populationen insgesamt. Auf sie wirkt die Anwesenheit des Menschen in gewisser Weise zerstörerischer als Radioaktivität. Die Geschichten über Hunde-Wölfe in der Zone bezeichnet Gajtschenko übrigens als Nonsens.

Am selben Abend verkündet der Barmann, er werde bis auf weiteres bleiben. Für morgen sind neue Gruppen angesagt, den ganzen April über soll das Motel ohnehin ausgebucht sein. Daß sich seine Heimkehr verschiebt, trägt er gelassen. Weltmännisch öffnet er mir eine Flasche Budweiser und gibt zu verstehen, man müsse die Konjunktur auch an Orten nutzen, an denen man sich selbst leicht deplaziert vorkommt. Nachdenklich legt er eine neue Kassette auf: „It's a sound of silence.“ Die Zone schweigt. Doch halt! Erklingt da nicht hinter dem Horizont das Geheul des einen oder anderen Hunde-Wolfs? Ein pädagogisches Ziel hat Inter-Info erreicht: Ich denke gern an Tschernobyl.

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