: Der Wahnsinn ist keine Krankheit
■ Die Antipsychiatrie erprobt neue Wege der Behandlung
Irren ist menschlich. „Irre sein“ dagegen nicht. „Sobald ein Verhalten für die Umwelt nicht erklärbar ist, läuft man Gefahr, als psychisch krank abgestempelt zu werden“, sagt Andreas Koch, Psychologe im Kontakt- und Beratungszentrum KommRum Friedenau. „Seit einiger Zeit werden psychische Krankheiten wieder mehr von der biologischen Seite betrachtet. Viele Mediziner gehen davon aus, daß etwa Schizophrenie erblich ist.“
Koch sieht psychische Erkrankungen vielmehr „als Ausdruck sozialer Konflikte und sozialer Zuschreibung“. Diese psychiatriekritische Sichtweise wurde in den fünfziger und sechziger Jahren in den USA, in England und Italien entwickelt. Kritische Mediziner und Intellektuelle hinterfragten damals die gängige Vorstellung von „Normalität“. „Sie gelangten zu der Auffassung, daß Wahnsinn keine Krankheit ist, sondern eine Möglichkeit, die in uns steckt“, erläutert Koch. Vor diesem theoretischen Hintergrund entstand eine Gegenbewegung zur Anstaltspsychiatrie: die Antipsychiatrie. Die Vertreter dieser Richtung versuchten einen anderen Umgang mit Psychiatriepatienten zu entwickeln. Die „Verrückten“ sollten nicht weiter in Verwahranstalten weggeschlossen werden. Anstalten und Kliniken wurden umstrukturiert und aufgelöst, Krisenhilfe erfolgte ambulant.
Der Begriff Antipsychiatrie läßt sich schwer exakt definieren. Es gibt verschiedene Richtungen. So unterscheidet Koch zwischen „Antipsychiatrie“ und „gemeindepsychiatrisch orientierten Psychiatrieformen“. In Berlin seien es vor allem Betroffenenorganisationen wie das „Weglaufhaus“ und die „Irrenoffensive“, deren Umgehensweise mit psychischen Krankheiten man als radikal antipsychiatrisch bezeichnen könne. „Diese Organisationen lehnen jegliche Behandlung mit Medikamenten ab, alle Mitarbeiter sind selbst Psychiatrie-Betroffene.“
Im „KommRum“ dagegen arbeiten vor allem nichtbetroffene Experten. „Wir versuchen, möglichst wenig psychiatrisierende Hilfestellung zu leisten. Bei uns können die Leute erst mal sein, und wir lassen sie auch sein. Wir bieten leicht zugängliche und niederschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote an.“ Volker Wartmann
KommRum Friedenau, Schnackenburgstraße 4, 12159 Berlin, Tel. 8519025
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