Einsamkeit und Freiheit der dritten Art

Peter Glotz will die Einführung von Studiengebühren und bringt damit alle gegen sich auf. Er möchte mehr Autonomie für die Universitäten und den Wettbewerb. Dort wo er nicht von Geld redet, ist sein Buch spannend. Dies meint  ■ Hartmut Kugler

Es ist schon ein Kreuz mit der SPD und ihrer Hochschulpolitik. Da kündigte ihr bildungspolitischer Sprecher Peter Glotz ein neues Buch an, und noch bevor es erschienen war, ging aus den Funktionärsetagen der Protest dagegen los. Parteivorstände signalisierten Distanz, immer wache Jusoverbände forderten die Kaltstellung des Autors.

Was ist passiert? Mit einer vor wenigen Tagen erschienenen „Streitschrift“ will Glotz auf die desolate Lage der Universitäten aufmerksam machen und hat seinen im Buch begründeten Vorschlag, die Einführung von Studiengebühren, schon vorab bekanntgegeben; dies in der wohl richtigen Einschätzung, daß sich die Öffentlichkeit für Hochschulfragen nur interessiert, wenn es ums Geld geht, die Partei-Öffentlichkeit nur, wenn es die Beschlußlage trifft. Glotz ist prinzipiell für Studiengebühren, die Beschlußlage der SPD prinzipiell dagegen – und schon arbeiten die Angstbeißreflexe. Man nennt das „Streitkultur“.

Um die dramatische Unterfinanzierung der Universitäten abzumildern, braucht es zusätzliches Geld. Ein Teil davon sollen die Benutzer der Einrichtung beisteuern, meint Glotz. Eins seiner Paradeargumente dafür: Auch bei den Kindergärten seien die Benutzergebühren selbstverständlich und allgemein akzeptiert. Das ist auf den ersten Blick eine plausible Parallele, aber doch eine arg riskante. Denn wenn das Gebührenmodell von den Kindergärten auf die Hochschulen übertragen werden soll, warum nicht gleich auch auf die Schulen? Vielleicht zuerst auf die Grundschulen, dann gestaffelt nach Schulstufen und -typen bis hinauf in Billig-, dann Nobeletagen der Universitäten? Da läuft der alte Hexenmeister selbst Gefahr, den herbeigerufenen Besen nicht mehr loszuwerden.

So richtig durchmodelliert ist sein Plädoyer für Studiengebühren ohnehin nicht. Wie sie im einzelnen berechnet und erhoben werden sollen, interessiert ihn wenig. Überhaupt ist seine Streitschrift kein Buch eines Rechners für Rechner. Die Aufmerksamkeit, die es verdient es, regt sich an anderen Stellen.

Das schrille Cover des Büchleins: „Im Kern verrottet? Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten“ scheint eine Erweckungspredigt anzukündigen, einen Aufruf zu radikaler Umkehr vor dem Untergang. Auch die Kapitelüberschriften wie „Zerstörung und Selbstzerstörung der deutschen Universität“ wirken eifernd.

Der Text plädiert dann überraschend für Behutsamkeit. Ein ökologisch geschultes Denken scheint am Werk: Universitäten sind wie Biotope hochkomplexe und artenreiche Gebilde. Beschädigungen lassen sich nicht mit Kahlschlägen heilen, sondern mit behutsamen Hilfen zur Selbsthilfe. Eine „Strategie der Entkoppelung“ soll den Universitäten mehr Gestaltungsfreiheit geben. „Losbinden“ ist das Losungswert. Entscheidungskompetenzen sollen aus den Ministerialetagen in die Universitäten verlagert werden. Auch finanzielle Kompetenzen. Nur in diesem Kontext macht die Forderung nach Studiengebühren Sinn. Denn mit den Gebühren sollen die Universitäten selbständig wirtschaften dürfen. Ein Wettbewerb werde die Folge sein; wer mehr Studenten anziehe, erhalte auch mehr Gebühren. Die Universitäten wären gefordert, verschiedene Schwerpunkte zu bilden, ihre Lehr- und Forschungsprogramme zu differenzieren und zu optimieren, damit sie attraktiv und konkurrenzfähig bleiben könnten. In diese Richtung geht die Vision.

Der Wettbewerbsgedanke ist auf mittlere Sicht wahrscheinlich unabweislich – falls innerhalb der Europäischen Union die verschiedenen Hochschultypen irgendwann wirklich miteinander konkurrieren sollten. Doch von den Tücken des Gedankens ist bei Glotz zuwenig die Rede. An englischen Universitäten, die vom Thatcherismus zum Geldverdienen geschickt worden sind, zeichnet sich die Gefahr ab, daß nur noch geforscht wird, was Geld einbringt. Und was viel Geld einbringt, das gilt als große Forschung.

Jede Universitätsausbildung steht und fällt mit ihrer Finanzierbarkeit. Doch sie definiert sich nicht daraus. Wo Glotz nicht vom Geld redet, wird sein Buch spannend. Er verlangt eine „zweite Phase der Hochschulreform“, in der die Hochschulen sich darauf zu besinnen hätten, daß sie nicht bloß „nachgeordnete Behörden für die ordentliche Ausbildung der Funktionseliten“ seien. „Durch die Ausbildung der Arbeitskräfte für die Zwecke der im ganzen ziellosen, immer nur an partikulare Zwecke gebundenen technischen Massengesellschaft wird der Aufgabe der Universität nicht genug getan ... Mit der Universität sinken Gesellschaft und Staat ab.“ In diesem Zitat sieht Glotz die These seiner Streitschrift bündig formuliert.

Das ist bemerkenswert, denn es stammt von Karl Jaspers aus dem Jahr 1960. Damals hatte – wenigstens dem Anspruch nach – die Humboldtsche Maxime gegolten, der Universität sei es „vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem Selbstaktus im eigentlichen Verstande ist notwendig Freiheit und hülfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganze Organisation der Universitäten.“ Wenige Jahre später war diese Maxime für obsolet erklärt worden, weil sie nur den Interessen einer privilegierten Oberschicht zu dienen und den Anforderungen einer für alle Schichten offenen Universität hinderlich zu sein schien. An der Massenuniversität wirkt die Formel der Einsamkeit und Freiheit lächerlich.

Peter Glotz hat die damalige Universitätsentwicklung einschließlich der „Abschaffung Humboldts“ an maßgeblicher Stelle (in der Bundesassistentenkonferenz, als Münchener Prorektor, als Bonner Staatssekretär) mitformuliert und mitgestaltet. Jetzt greift er auf Humboldt programmatisch zurück. Revocatio? Renegatentum? Nein, Glotz ist nicht zum Nostalgiker mutiert. Es geht ihm wie eh und je um Innovation, um Effizienz und Konkurrenz, um Allgemein- wie um Elitebildung, um Spitzenleistungen im Gerangel des wissenschaftlich- technischen Fortschritts. Nun hat er anscheinend gesehen, daß es darum auch Humboldt schon gegangen war.

Und in der Tag, die heute so dringlich gewünschten „Schlüsselqualifikationen“ (Kreativität, Flexibilität und so weiter) sind mit Humboldts Postulaten längst ins Visier genommen; sie waren damals nur anders begründet: anthropozentrisch, nicht technozentrisch. Vieles von dem, was die 68er Studentenbewegung als „bildungsbürgerliche Relikte“ entsorgt hatte, ist heute in der Forderung nach „Schlüsselqualifikationen“ wieder aktuell.

Die Zukunftsvision: Humboldt am Bildschirm

Das Studium sei mehr als Berufsqualifikation, sei Einübung in eine Lebenshaltung, sei nicht nur Lebensabschnitt, sondern Lebensform, sei persönlichkeitsbildend. Wie sehr diese einst respektablen Aspekte im Rationalisierungsdruck des letzten Jahrzehnts tabuisiert worden sind, zeigt sich an der Vorsicht, mit der Glotz darüber redet. Gewiß macht er deutlich, daß die Unlust der jetzt Studierenden, sich als „Studenten“ zu identifizieren, mit dem schwachen Selbstverständnis der Institution zu tun hat. Die Universität ist nicht als der Ort begreiflich, an dem die „großen Themen“ behandelt, an dem gesellschaftliche und individuelle Leitbilder erarbeitet würden.

Doch hier bricht Glotz früh ab. Sein Plädoyer für das Studium als Lebensform paßt schlecht zu seiner Begeisterung für „Teilzeitstudiengänge“ und fernuniversitäre „Kompaktangebote“. Sein Vorwurf an die deutschen Hochschulabsolventen, sie zeigten zuwenig „Dynamik“, wird unfreiwillig zynisch, wenn er als positives Gegenmodell ausgerechnet die „Eigenverantwortlichkeit“ lobt, „die einen amerikanischen Philosophieabsolventen notfalls eine Tankstelle eröffnen läßt“. Die vielen promovierten Taxifahrer unserer Universitätsstädte werden für den Hinweis auf die amerikanischen Tankstellen dankbar sein. Vielleicht kriegen sie dort Rabatt.

Immer wieder beschwört Glotz die gegenwärtige „Wende von der Industrie- zur Informationsgesellschaft“, ohne daß einmal erklärt würde, was sich mit der Zauberformel anstellen läßt. Die Neugestaltung der „Kommunikationsprozesse“ soll vieles heilen. Wo die Massenuniversitäten die intime Lehrer-Schüler-Kommunikation nicht zulassen, sollen E-Mail, Internet, Multimedia helfen. Ein jeder baut sich worldwide am Bildschirm seine Privatuniversität zusammen. Die in die „virtuelle Universität“ gesetzten Erwartungen mögen sich tatsächlich irgendwann einmal erfüllen. Humboldt am Bildschirm. Einsamkeit und Freiheit der dritten Art. Sehr anziehend wirkt diese Zukunft nicht.

Glotz schreibt schnell und schwungvoll. Zuweilen wiederholt und widerspricht er sich. Eigentlich ist sein Buch nicht fertig, es ist ein Debattenbeitrag, wartet auf Reaktionen und Gelegenheiten zur Fortsetzung. Anregungen bringt es genug.

Peter Glotz: „Im Kern verrottet. Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten“. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1996, 158 Seiten, 24 DM

Unser Autor ist Professor für Deutsche Philologie an der Universität Erlangen