: In der „Fluchtburg der Objektivität“
Was bleibt von der „kritischen Geschichtswissenschaft“, wenn ein Stasi-Spitzel in einer renommierten Reihe die Geschichte der DDR schreibt: die große „Entsorgung“. Der Fall Dietrich Staritz und Hans-Ulrich Wehler ■ Von Armin Mitter und Stefan Wolle
„Wer darf die DDR-Geschichte schreiben?“ Diese Frage bewegt nicht nur Fachhistoriker in Ost und West, seit 1993 eine öffentliche Debatte über die Zusammensetzung des Forschungsschwerpunktes Zeitgeschichtliche Studien in Potsdam ausbrach.
Ausgangspunkt war die Tätigkeit alter SED-Kader, die mit maßgeblicher Unterstützung westlicher Kollegen und staatlicher Fördergelder nach der Wende eine zweite Karriere starteten. Kritisiert wurde dies nicht etwa von „konservativen Kräften“ aus der alten Bundesrepublik, sondern von Historikern aus der ehemaligen DDR. Einen Höhepunkt fanden die Auseinandersetzungen, als einer der geläuterten „Vorzeigeossis“, ein ehemaliger Parteisekretär und Bereichsleiter an der Akademie der Wissenschaften, als IM der Stasi enttarnt wurde und den Forschungsschwerpunkt in Potsdam verlassen mußte.
Pikant an der ganzen Angelegenheit war, daß er in den 80er Jahren vor allem seine westdeutschen Kollegen ausspioniert hatte.
Der Schwerpunkt der Diskussion verlagerte sich dann im Laufe der Zeit immer mehr darauf, wie man die DDR-Geschichte schreiben sollte. Einen erneuten Höhepunkt in dieser vielschichtigen Debatte gab es im Sommer 1994.
Westdeutscher DDR- Forscher: als IM enttarnt
Am 26. August platzte eine Bombe in die akademische Sommerpause. Die Bild-Zeitung titelte: „Stasi führte wichtigsten DDR-Forscher“ und berichtete, der Leiter des Arbeitsbereiches DDR-Geschichte an der Universität Mannheim, Professor Dietrich Staritz, habe in den sechziger Jahren unter dem Decknamen IM „Erich“ für das MfS gearbeitet.
In der Tat ging es um einen der bekanntesten DDR-Forscher der Bundesrepublik. Die durch die Enthüllungen ausgelöste Diskussion folgte dem bekannten Szenario. Es fanden sich Leute, die sofort wußten, daß die gesamte bundesdeutsche DDR-Forschung vor 1989 eine Stasi-Inszenierung war (wie ja auch die DDR-Opposition, die Literaturszene von Prenzlauer Berg, die Herbstrevolution usw. usf.). Auf der anderen Seite wurde – durch die pauschalen Angriffe gegen den Mannheimer Forschungsschwerpunkt – die konzertierte Aktion der Abwiegler erleichtert.
Fakt bleibt, daß Staritz von 1961 bis 1972 im Westen als Agent der Staatssicherheit tätig war. Seine Arbeit in Mannheim hatte er erst 1981 aufgenommen, insofern bestand kein Grund, ihn dienstlich zu belangen, und rein strafrechtlich war die Angelegenheit verjährt. Staritz blieb also Professor für DDR-Geschichte und zog sich lediglich etwas aus der Öffentlichkeit zurück. So wurde es schnell wieder still um die peinliche Geschichte, und wichtige Fragen wurden erst gar nicht gestellt.
Staritz hat die zwei Jahre der Muße gut genutzt. In der edition suhrkamp erschien vor einigen Wochen im Rahmen der Reihe „Neue Historische Bibliothek“ eine erweiterte Neuausgabe der „Geschichte der DDR“. Nun ist zu fragen: Warum soll ein enttarnter Stasi-Schnüffler keine Bücher schreiben? Die Memoirenschreiberei ist geradezu ein Hobby der untätig herumsitzenden MfS-Offiziere geworden. Der einstmals stellvertretende Chef der Staatssicherheit, Markus Wolf, verfaßte ein Kochbuch, und der linke Rotbuch Verlag war sich nicht zu schade, das Buch zu veröffentlichen. Und wer will heute noch erwähnen, daß Leute wie Staritz aus politischer Überzeugung Freiheit und Demokratie an das SED-Regime verraten haben?
Das Kalkül: mit der Vergeßlichkeit rechnen
Interessant allerdings ist die Selbstverständlichkeit, mit der Autor, Verlag und Herausgeber der neuen „DDR-Geschichte“ auf die Vergeßlichkeit der Öffentlichkeit bauen. Und hier geht es nicht um „längst verjährte“ Stasi-Geschichten, sondern um aktuelle Vorgänge im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik. Denn als Herausgeber der Reihe figuriert kein Geringerer als das ungekrönte Haupt der „kritischen Geschichtswissenschaft“, Hans-Ulrich Wehler aus Bielefeld. War es ein Fauxpas oder Unaufmerksamkeit? Hatte Herr Wehler im August vor zwei Jahren die Zeitung nicht gelesen, oder hat er sich so tief in die Vergangenheit vergraben, daß ihm die Begriffe MfS und IM nichts mehr sagen?
Im Vorwort seines Essay-Bandes „Die Geschichte als Gegenwart“ schrieb Wehler 1994 akademisch abstrakt, aber in der Sache eindeutig: „...der Titel dieses Sammelbandes [lenkt] auf ein Grundproblem der Aktivität des Historikers hin, auf ein Problem, dem er nie und nimmer ausweichen kann, auch wenn die Fluchtburg der positivistischen ,Objektivität‘ oder die Maxime des klassischen Historismus, daß man der Vergangenheit ausschließlich unter ihren eigenen Bedingungen gerecht werden könne, noch so sehr verteidigt wird. [...] Vielmehr muß sich die Geschichtswissenschaft dem unauflöslichen Nexus zwischen der vermeintlich toten Vergangenheit und der eigenen Lebenswelt bewußt stellen.“
Wehler macht diesen Gedanken von der toten Vergangenheit und der eigenen Lebenswelt geradezu zum „kritischen Ansatz“, der „analytischen Geschichtswissenschaft“. Wo bleibt aber der kritische Ansatz, wenn ehemalige Stasi-Agenten als DDR-Forscher wieder salonfähig gemacht werden?
Die Suhrkamp-Bändchen waren über Jahrzehnte ein Markenzeichen für kritische Analyse der Gesellschaft, auch in der DDR- Subkultur. Sie gingen von Hand zu Hand, oder man besorgte sie sich unter großen Schwierigkeiten aus den „Giftabteilungen“ der Bibliotheken. Der Zoll und die Stasi waren scharf auf diese Bücher und „stellten sie sicher“, auch wenn man sie aus Warschau oder Budapest mitbrachte, wo sie teuer erworben – manchmal auch geklaut – worden waren. Mit dem Staritz- Band bleibt nichts mehr von dieser aufklärerischen Tradition. Die Kaufleute im Verlag sind zu verstehen. Wenn das Buch Umsatz bringt, soll es auf den Markt. Aber welcher Teufel reitet Herrn Wehler, sich mit einem ehemaligen Agenten in ein Boot zu setzen? Noch interessanter als die verjährten Stasi-Geschichten sind die Aktivitäten von Staritz seit 1989.
Die Mauer war kaum gefallen, da tauchte er beim „Institut für Marxismus-Leninismus“ in Ost- Berlin auf und probte den Schulterschluß mit den SED-Genossen. Auf streng wissenschaftlicher Ebene, fern der Tagespolitik wollte man nun gemeinsam die Geschichte erforschen. Daß Staritz und andere West-Professoren mit solchen Offerten die in Auflösung befindlichen SED-Instanzen stärkten, wirkte seinerzeit nur wie Naivität.
Ähnliches spielte sich in Mannheim ab. Wie der Teufel aus der Kiste versammelte sich die ganze alte Garde der SED-Propagandisten im Oktober 1990 zur Arbeitstagung in Mannheim. Wer wollte jetzt noch so unhöflich sein, die Stiefellecker des SED-Staates an ihre Vergangenheit zu erinnern?
Die DDR eine Diktatur? Niemals, meint Staritz
Und wo es getan wurde, war Staritz mit dem rechten Begriff zur Stelle. „McCarthyismus“ und „Denunziantentum“ tönte er im privaten Gespräch. Und öffentlich bestritt er, daß die DDR jemals ein Unrechtsstaat und eine Diktatur gewesen war. Ansonsten schob er solche politisch und wissenschaftlich schwer diskreditierten Leute wie Professor Siegfried Prokop von der Humboldt-Universität nach vorn. Für Staritz sprach jedoch seine wissenschaftliche Kompetenz in Sachen DDR, auf welchem Wege er sie auch immer erworben haben mag.
Was für ein Beitrag zur Erforschung des SED-Staates ist unter diesen Umständen nun entstanden? Die in erster Auflage 1985 erschienene DDR-Geschichte war, gemessen an den damals zugänglichen Quellen, ernst zu nehmen. Auch wenn der gewählte Ansatz an vielen Stellen allzu modisch daherkam und der Autor sich auf die „durchaus wechselnde Stoßrichtung der politischen Zielsetzungen, auf die Wirkungsmechanismen und sozialökonomischen Determinanten politischen und gesellschaftlichen Handelns“ konzentrierte und „die Entwicklungsgeschichte des politischen Systems, etwa der Funktionsweise der SED, des Staatsapparates oder der verschiedenen Parteien und Organisationen nicht intensiv verfolgt(e).“
In einer Analyse aus dem Jahre 1985 mag dieser Ansatz legitim erscheinen. Und in den Ohren von Hans-Ulrich Wehler, dem Herausgeber der Reihe, müssen Staritz' Töne wie Musik geklungen haben. Denn für Wehler bedeuten „modernisierungstheoretische“ oder „gesellschaftsgeschichtliche“ Ansätze den Königsweg zur Erforschung der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Auch nach 1989 und der Öffnung der Archive läßt sich nichts gegen einen solchen Ansatz einwenden. Nur müßte dabei die Analyse dessen miteinbezogen werden, was Staritz, aus welchen Gründen auch immer, 1985 vernachlässigen zu können meinte. Inzwischen sind eine ganze Reihe von quellenorientierten Untersuchungen über das politische System, den Unterdrückungs- und Disziplinierungsapparat sowie über das gesamte Spektrum des Widerstandes in der DDR erschienen. Doch Staritz glaubte noch 1996, seine Gliederung von 1985 bis in die Unterpunkte beibehalten zu können. Die Zeit bis zur Vereinigung fügt er einfach nur an. Die Grundaussagen für die Jahre bis 1985 bleiben unverändert, obwohl die „überarbeitete“ Fassung von heute fast doppelt so lang ist.
Nichts könnte den von Wehler favorisierten Ansatz mehr in Frage stellen als diese – letzlich nur angereicherte – Darstellung von Professor Dietrich Staritz.
Abgesehen davon, daß der Autor häufig Quellenmaterial zitiert, das bereits in anderen Studien benutzt worden ist: Er vermeidet auch ganz bewußt die Auseinandersetzung mit Thesen, die seinen Ansatz hinterfragen könnten. Dabei wird ein Dilemma deutlich, das Staritz mit einer ganzen Reihe von westdeutschen DDR-Historikern teilt.
In den Archiven fand er, was er immer schon wußte
Nach dem Besuch der nunmehr zugänglichen Archive erklärte er mehrmals, nur das bestätigt gefunden zu haben, „was ich schon wußte“. Damit erklärt sich auch die Beibehaltung seiner Gliederung.
„Wenn ein Affe in den Spiegel schaut, dann schaut ein Affe heraus“ lautet ein Aphorismus von Lichtenberg. Das trifft nicht nur auf Affen zu und bleibt durchaus nicht auf den Blick in den Spiegel beschränkt. Der Beispiele für eine verzerrte Wahrnehmung der Tatsachen durch Staritz gäbe es viele. Entscheidender ist jedoch die generelle Sicht des Autors auf die einschneidenden Ereignisse der DDR-Geschichte. Hier wird die Voreingenommenheit am augenfälligsten.
Nur knapp erwähnt werden von ihm Untersuchungen, die die Ereignisse im Juni/Juli 1953 in einen größeren Kontext stellen. Die gesamte Breite des Widerstandes gegen die SED-Herrschaft um den 17. Juni bleibt ausgespart. Auf die durch diese Ereignisse hervorgerufene generelle Umstrukturierung des Macht- und Disziplinierungsapparates in der DDR geht Staritz nicht ein. Auffällig knapp schreibt Staritz über den Widerstand im Innern der DDR vor und nach dem Mauerbau. Wenn überhaupt, dann ist es die reformkommunistische Opposition, die sein Interesse findet. Merkwürdig bleibt im Buch die Haltung der DDR-Bevölkerung. Sie bleibt farblos, grau, genau wie damals, als die Mauer noch eine andere Wahrnehmung verhinderte. Eine kritische Haltung zur Geschichte impliziert „mehr Gerechtigkeit für die Unterlegenen“. Dies schrieb Herausgeber Wehler 1977. Genau davon ist bei Staritz nichts zu spüren. Welch kollektive Amnesie!
Dietrich Staritz: „Geschichte der DDR“. Erweiterte Neuausgabe, Neue Historische Bibliothek. Hrsg. Hans-Ulrich Wehler, Bd. 260, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1996, 495 S., 29,80 Mark
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