Naina zeigt: Jelzin ist ein anständiger Mensch

Fünf Jahre lang hatte die Familie des russischen Präsidenten Boris Jelzin Anweisung, sich mit öffentlichen Auftritten zurückzuhalten – bis jetzt: Seine Tochter berät im Wahlkampf, Ehefrau Naina kämpft mit  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Dann werde ich den Bann aufheben!“ entschied Boris Jelzin erlöst. Wochenlang hatte er gegrübelt, sollte er Frau Naina Jossifowna in der Präsidentschaftskampagne einen festen Platz zuweisen oder sie mit seinen Geschäften verschonen? Die Klärung brachte eine Sitzung führender Medienvertreter des Landes, ein Fernsehdirektor erleichterte ihm die Entscheidung: „Es lohnt sich, doch in maßvoller Dosierung“.

Jelzins Herzinfarkt brachte den Durchbruch

Naina Jelzina hatte sich in den fünf Jahren Amtszeit ihres Gatten sehr zurückgehalten. Auf Auslandsreisen stand sie an seiner Seite, in Rußland zeigte sie sich seltener. Rampenlicht war nicht ihre Sache. Hier und dort eine Wohltätigkeitsveranstaltung, Besuche in Kranken- und Waisenhäusern, gelegentlich ein kulturelles Ereignis. Patriarch Boris Jelzin hatte es nie an Deutlichkeit fehlen lassen: Einmischung der Familie in die Politik dulde er nicht! Mittlerweile stehen die Dinge ein wenig anders. Sein mattes Image verlangt außerordentliche Maßnahmen, um die Gunst der Wähler zurückzugewinnen. Erst kürzlich berief er die älteste Tochter Tatjana in den persönlichen Wahlkampfstab.

Der zweite Herzinfarkt ihres Mannes im Herbst letzten Jahres zwang Naina, sich häufiger der Kamera zu stellen. Plötzlich war sie die wichtigste Quelle der spärlichen Nachrichten, die vom Krankenlager hinausgelangten. Sie machte ihre Sache souverän, ließ sich nicht einschüchtern und sparte nicht mit Kritik an Politikern und Journaille, die sich am besten auf Leichenfledderei verstehen. Nüchtern aber empört, keineswegs sentimental. Zum ersten Mal nahmen die Russen sie über eine längere Zeit wahr, viele gaben sich überrascht.

Jelzins Frau sagt, was sie denkt, frei heraus und vor allen Dingen, wie sie es sagt. In wohlgesetzten Worten, ohne Beiwerk und Verlegenheitsfloskeln. Ihr Diktus hob sich wohltuend ab von der quälenden Unberedtheit ihres Gatten in letzter Zeit.

Auf einer internationalen Konferenz in Paris hatte sie dann ihren Auftritt. Im Anschluß gab sie dem Fernsehen in der russischen Botschaft ein erstes langes Interview. Bescheiden, aber informiert, ohne Allüren oder Künsteleien, eine Frau aus dem Volk. Wer es gesehen hatte, war angetan. Indes gelang ihr noch etwas Wichtigeres. Sie vermittelte glaubhaft, keinerlei Machtgelüste zu hegen, nicht einmal mitregieren zu wollen! In Rußlands hochkomplexem Geschlechter(un)verhältnis kam das einer Offenbarung gleich. Ob sie denn eine weitere Kandidatur ihres Mannes unterstütze? „Wenn Sie mich als seine Frau fragen, natürlich nicht, aber für Rußland ist es wohl das beste“. Aus ihr sprach ein Stück Staatsräson. Gleichzeitig forderte sie den Zuschauer unbewußt zum inneren Monolog auf. „Selbstverständlich hat Boris seine Fehler. Aber heißt es nicht in einer russischen Volksweisheit: ,Das Gesicht einer Frau zeichnet ihr Mann‘ ...“

Die kleine, etwas füllige Frau strahlt Wärme und Güte aus. Brandzeichen frustrierter Damen aus Nomenklaturakreisen, stürzende Mundwinkel, eingerostete Langeweile, Folgen ihrer Erniedrigung zu einem Stück Garderobe, das Mann notgedrungen zu Empfängen schleift, während er sich sonst anderweitig vergnügt – von alledem hat sie Boris Nikolaijewitsch verschont. Russinnen spüren das sofort.

Noch ist Rußland keine wirklich offene Gesellschaft, selbst belanglose familiäre Details werden gehütet wie Staatsgeheimnisse. Unabhängig von der politischen Verfaßtheit wirkt dieses Gesetz in Rußland seit alters her. Das Privatleben der politischen Elite existiert für die Öffentlichkeit schon gar nicht, es sei denn als Anekdote oder Gerücht. Die Offenheit, die Jelzins Frau an den Tag legt, erstaunt daher. Einem Millionenblatt vertraute sie an, sich mit ihrem Mann nie ernstlich gestritten zu haben. „Sogar unsere Töchter waren darüber verwundert.“ Immer finde er ausgleichende Worte, ohne zu verletzen.

In der Tat müssen die Jelzins eine harmonische Ehe führen, die auf gegenseitiger Achtung fußt. In Rußland ist das ziemlich ungewöhnlich. Familiensoziologen beklagen ein auffälliges Phänomen, das Massencharakter angenommen hat. Ein beträchtlicher Teil der Russinnen verachtet den Ehepartner. Ihre Töchter übernehmen diese Haltung ungebrochen.

Ausgesuchte Zärlichkeit des Machtmenschen

Manchmal grenzt es schon an Kitsch, wenn Boris Jelzin in seinen Büchern über Naina schreibt. Mit ausgesuchter Zärtlichkeit, die man diesem bulligen Machtmenschen nicht zugetraut hätte. Seine private Seite scheint eine lebenslange Romanze, so wie es während des Studiums im Ural angefangen hatte. Beide absolvierten dieselbe Universität im selben Jahrgang, nach dem Diplom wechselte Naina von Swerdlowsk nach Kuybischew. Ein Jahr lang sahen sie sich nicht, weder Zufall noch Schicksal, vielmehr hatten beide es so gewollt, um ihre Liebe zu prüfen ...

Jelzin mag kein idealer Politiker sein und eine Menge Fehler gemacht haben, aber in seiner Familie ließ er sich nichts zuschulden kommen. Kurzum, ein „porjadotschnij tschelowek“ – ein anständiger, ordentlicher Mensch. Genau diese Botschaft ist es, die Naina unter die Wähler zu bringen hat. Ein sorgender Familienvater, der nicht wie Legionen von Männern, so russische Soziologen, zu „Eskapismus“ und „Infantilismus“ neigt, kann der überhaupt ein schlechter Staatslenker sein? In einer Gesellschaft, die in ihren Tiefenstrukturen noch in paternalistischen Denkmustern gefangen ist, die sich traditionell wider besseres Wissen Projektionen hingibt, mag diese Strategie sogar verfangen.

Ende Februar ging Jelzina das erste Mal in einem Moskauer Park unter die Wähler. Sie tanzte zu Volksweisen, aß „Blinis“, russische Pfannkuchen, und plauderte mit den überraschten Spaziergängern. Die Moskauer waren begeistert von ihrer First Lady.

Als Mutter, die in der Provinz Kinder großgezogen hat, heute ihre Enkel versorgt, eine große Familie um sich schart, dem Mann gedient hat, um ihm die Karriere zu ermöglichen, spricht sie die Sehnsucht fast aller russischen Frauen auch der jüngeren Generation an. Und der Mann hat ihr die Treue gehalten, das erhebt sie schon zu einem Ideal. Sie mußte nicht einmal streng auf ihr Äußeres achten und durfte durchaus ein wenig in die Breite gehen.

Emanzipation und Feminismus haben in Rußland noch kein füßchenbreit an Boden gewinnen können. Es wäre ungerecht, den Männern allein die Schuld in die Schuhe zu schieben. Zugegeben, oft sind sie Scheusale, weil armselige Schwächlinge – zeitgenössische russische Literatur von Frauen geschrieben, verfährt entsprechend mit ihnen. Sie reduziert sie zu entseelten Textilien wie „alten Hosen“, in unserem Idiom vielleicht treffender Waschlappen. Aber die politische Bühne überlassen die Frauen dennoch kampflos den Männern. Für sie ist es eben eine Bühne. Das Leben spielt sich dort ab, wo die seinswichtigen Fragen geklärt werden, die nach wie vor in ihre Zuständigkeit fallen.

Diese Feinheiten muß ein Wahlkampfteam bedenken, um nicht das Gegenteil zu bewirken. Das hatte der Fernsehchef im Hinterkopf, als er zu maßvoller Dosierung mahnte. Naina wäre wohl am besten beraten, wenn sie einfach ihrer Intuition folgte. Das kommt draußen an, Imagemaker könnten den Erfolg eher drosseln.

Noch haben die Russen nämlich Raissa Gorbatschowa nicht vergessen, nicht einmal verdaut. Die Gattin des Initiators der Perestroika hatte für russische Verhältnisse den Bogen überspannt. Sie kleidete sich elegant, wahrte selbst im fortgeschrittenen Alter eine tadellose Figur, war intelligent und gebildet. Die Gorbatschows boten ein ungewohntes Bild, ja sie waren ein Augenschmaus verglichen mit den farblosen und ungestalten Figuren der Sowjetführungen.

Anfangs schaltete man noch den Fernseher ein, um sich an ihrer Aura zu laben. Bald provozierte Raissas Anderssein nur noch Neid. Jede Frau könne so aussehen und sich über Kunst verbreiten, wenn sie nicht arbeiten und Schlange stehen müsse ... Doch noch unangenehmer stieß ihr Hang auf, sich bei jeder Gelegenheit mit ihrem Mann zu zeigen und sich selbst zu Wort zu melden. Energie und Aktivität machte man ihr zum Vorwurf. Sie sei es, die hinter den Kulissen die Fäden zöge, argwöhnte die Volksseele. Gorbatschows Parteigenossen irritierte indes ein Mann, der seine Frau überall mit hinnahm und zu konsultieren schien, deren angestammter Platz doch eigentlich zu Hause, vor dem Fernseher sein sollte. Die Öffentlichkeit reagierte allergisch auf Raissa, die weiß Gott keine Feministin war. Auch sie hatte eine Familie, opferte die eigene wissenschaftliche Karriere ihrem Mann, den sie vergötterte und daraus kein Hehl machte.

Raissa Gorbatschowa ist noch nicht verdaut

Selbst Boris Jelzin sparte nicht mit Hohn. In den „Aufzeichnungen des Präsidenten“ beschreibt er, wie Raissa ihren Mann abends empfängt und ums Haus führt, während er seine Erlebnisse preisgibt. „Frau Gorbatschowa war nicht einfach nur im Bilde, sie war sogar bestens im Bilde“. Dergleichen kommt bei Jelzins angeblich nicht vor. Raissa hatte gegen das ungeschriebene Gesetz der Stalinzeit verstoßen, das den Frauen ein Recht auf öffentliche Existenz untersagte. Zudem erfüllte sie nicht die äußeren Kriterien, sie war weder gluckenhaft noch allzu mütterlich.

Naina Jelzina verkörpert hingegen das Traditionelle und Häusliche, den patriarchalen Typ, sie ist charmant und bescheiden, worauf die Russen großen Wert legen. Sie paßt in die politische Kultur des Landes und läuft keine Gefahr, Wähler zu verschrecken. Nur Maßhalten ist geboten.

Boris Jelzins aussichtsreichster Herausforderer, Kommunistenführer Gennadij Sjuganow, begegnet der Wahlkämpferin Naina denn auch mit unverblümter Ablehnung. „Das gehört nicht zur russischen Tradition. Wir sind doch kein westliches Land“. Ginge es nach ihm, solle „nur ein Mitglied der Familie mit Politik beschäftigt sein“.

Während Nationalist und Politclown Wladimir Schirinowskij dem Präsidenten riet, dem Beispiel russischer Zaren zu folgen und seine Frau statt in den Wahlkampf doch ins Kloster zu schicken ...