Maikäfer in Tinte

■ Otto Sander las Ringelnatz im Tivoli

„Sehen sie mal hier, Otto vor 23 Jahren.“ Ein älterer Herr reicht eine Kopie des Covers der Theater Heute Ausgabe von 1972 über den Tisch. Auf einem Szenenfoto sind Männer in gestreiften Uniformen zu sehen. „Matrosen und Trotzki auf der Bühne“, lautet die Bildunterschrift. „Der in der Mitte, ist Otto Sander,“ fügt der Herr lächelnd hinzu, als ich meine Blicke etwas hilflos über das Blatt wandern lasse. Neben mir sitzt Witta Pohl, weiter vorne Inge Meysel, um einen großen deutschen Schauspieler im Schmidt's Tivoli zu erleben.

Nicht mehr ganz so jung wie auf dem Bild, aber immer noch genauso verschmitzt lächelnd setzt sich Otto Sander an den Rednertisch. Ringelnatz will der Mann rezitieren, der in Wim Wenders Der Himmel über Berlin als Engel neben Bruno Ganz auf der Siegessäule saß. Und irgendwie scheint Ringelnatz auch in ihm zu sein. Dieser Matrose, Schlangenbändiger, Flieger und was sonst noch alles, der meisterlich die verschroben-pointierten Verse zu Papier brachte und sie in der Zeit des ersten Weltkrieges im Münchener Kabarett Simplicissimus vortrug.

Vom Seemann Kuddel Daddeldu bis zur Eintagsfliege, die sich abends an ihr langes Leben erinnert, erweckt Sander durch Stimme und Gestik Ringelnatzsche Humoresken zu neuem Leben. Geradezu nachahmenswert sind die Tips aus dem Kinderbuch, die Sander schmunzelnd verlas. Ringelnatz empfiehlt Maikäfer in Tinte zu tauchen und über ein weißes Blatt Papier wandern zu lassen, weil die Muster so schön sind. 1924 ein Grund, das Buch der „sittlichen Gefahr“ zu bezichtigen, heute für saugute Stimmung.

Michael Quell