Letzte Bastion der Freiheit

Seit zehn Jahren äußern sich im Offenen Kanal seltsame und irgendwie geniale Leute über sich und die Welt. Daß nur wenige einschalten, stört sie wenig  ■ Von Barbara Bollwahn

Michael Santos ist kaum zu verstehen. Man muß schon angestrengt lauschen, um dahinterzukommen, daß sein seltsames Kauderwelsch, das wie eine exotische Fremdsprache mit deutschem Akzent klingt, ein seltsames Deutsch mit einem noch merkwürdigeren Akzent ist. Die Erklärungen des 65jährigen, wo er herkommt und was er macht, fallen seiner Aussprache zum Opfer. Verständlich ist nur sein Anliegen: im Künstler-TV des Offenen Kanals (OK) sucht der seltsame kleine Mann Amateurschauspieler und Sponsoren für sein 100.000 Mark teures Filmprojekt „Wasser bitte“.

Ob Santos ein verrückter Selbstdarsteller oder nur von seinem verquasten Projekt überzeugt ist, scheint den vielen Anrufern, egal zu sein. Vorwiegend Jugendliche greifen zum Hörer, um dem Mann, der sich anfangs mit Irokesenschnitt, später mit Glatze und elegantem Hut präsentiert, ihre Sympathie entgegenzubringen. „Santos, deine Sendung ist klasse“, meint eine 16jährige, die ganz normal klingt. Da fragt selbst Santos überrascht zurück: „Wie kommt es, daß dir meine Sendung gefällt?“ Daß zwischendurch auch mal ein „Leck mich!“ aus dem Hörer tönt, stört Santos nicht.

Auch der Chef des OK, Jürgen Linke, verbucht negative Anrufe eher als Erfolg. Der landläufigen Meinung über den OK aber: „Alle dürfen senden, keiner guckt zu“ widerspricht er vehement. Daß im OK zum Teil seltsame Individualisten ihr mediales Unwesen treiben und ihre Ansichten über die Welt, Aids, Opern, Bürgerrechte oder Schlagermusik verbreiten, stört ihn wenig. Der OK sei gerade für „Randgruppen“ eingerichtet. Stolz verweist Linke darauf, daß die Hälfte der 14stündigen täglichen Sendezeit von 30 verschiedenen Nationalitäten gefüllt wird. Für Linke sind es jene eigenwilligen Leute wie Santos, die dem Programm ein eigenes Profil verleihen: „Die Sendungen, die ein normaler Mensch mit Kopfschütteln quittiert, haben besonders viel Resonanz.“ Die „Angst vor einer täglichen Anarchie“ dagegen hält er für unberechtigt. In den zehn Jahren OK mit 21.000 Radio- und 23.500 Fernsehbeiträgen habe es lediglich einen Rechtsverstoß (wegen Pornographie) gegeben.

Was die Macher des OK dagegen aufregt, ist die Tatsache, daß sie im Unterschied zu anderen Bundesländern in Berlin nur über Kabel zu empfangen sind. Eine „Arbeitsgemeinschaft Antennenfrequenz 94,8“ fordert deshalb ein Ende des „Kabel-Ghettos im Hörfunk“ und eine eigene Antennenfrequenz für „eine freie, multikulturelle, multilinguale und experimentelle Meinungsäußerung“. Anfang Mai entscheidet die Landesmedienanstalt, welcher der 23 Bewerber den Zuschlag bekommt.

Die geringen Einschaltquoten sind für die Macher kein Maßstab. Schließlich sei der OK keine „Kompensation der negativen Auswirkungen des Privatfernsehens“, so Linke, sondern eine Möglichkeit, „frei und unzensiert Radio und Fernsehen zu machen“.

Der OK erhält jährlich etwa 1,8 Millionen Mark von der Landesmedienanstalt aus Rundfunkgebühren. Jeder kann die Produktions- und Übertragungsmöglichkeiten kostenlos nutzen. Es gibt keine Redaktion und kein festes Sendeschema. Werbung und kommerzielle Nutzung sind verboten. Darin sieht Marc Stolz, der zweimal im Monat das „Stadtviertelradio Prenzlauer Berg“ in den Äther schickt, ein „Dilemma“. Er glaubt, daß sich viele nicht mit Leuten wie Santos in einen Topf werfen lassen wollen. Auch Michael Steinbach, in dessen Radiosendung mehr oder weniger begnadete Schreiber ein Medium für ihre literarischen Ergüsse finden, wünscht sich mehr politische Gruppen für das „kleine Bollwerk“ in der Medienlandschaft. Von einem großen Publikum indes träumt er schon lange nicht mehr. „Auf Quoten aufzubauen wird matschig“, sagt der 28jährige. „Man muß Ecken und Kanten haben.“

Morgen gibt es im Studio des OK, Voltastraße 5, ab 21 Uhr eine Live- TV-Sendung „10 Jahre Kabel- Ghetto im Hörfunk“.