: Verzeichnis Lesbarer Bücher
■ Heilige Krieger
Es fällt auf, wie oft Alexander Kluge in seinem Buch über Tschernobyl kriegerische Metaphern und Vergleiche bemüht: „Es war Glückssache, wie bei einem Bombenangriff, wen die Strahlung trifft... Es wurde gehortet wie beim Ausbruch eines Krieges.“
Kluge-Lesern ist schon lange bekannt, daß die Bombardierung seiner Geburtsstadt Halberstadt ein biographisches Urerlebnis dieses Autors ist. Aber man kann es dennoch nicht allein auf das prägende Generationserlebnis schieben – Kluge ist Jahrgang 1932 –, daß sich in diesem Zusammenhang so zahlreiche martialische Reminiszenzen häufen. Was immer Tschernobyl eines Tages noch bedeuten mag (und man wird ja noch lange Zeit haben, dieses Ereignis zu deuten), es war auch ein Moment, in dem die Erlebnishorizonte der Generationen verschmolzen. Näher waren wir nie den mythischen Keller- und Bunkerszenen aus den Erzählungen unserer Eltern als in jenen Tagen nach dem 26. April 1986, an dem sich im Kernkraftwerk Tschernobyl der „größte anzunehmende Unfall“ ereignet hatte. Im Studentenwohnheim hockten wir gebannt vor dem Gemeinschaftsfernseher und hörten die Bulletins der Experten. Wir benutzten die nukleare Fachterminologie – GAU, Fallout, Rem, Halbwertszeit – bald so fließend und selbstverständlich wie die ältere Generation in ihren Kriegserzählungen, die uns lästig gewesen waren, die militärische.
Tschernobyl war, wie fast alles, was die Generationenverhältnisse hierzulande betrifft, eine extrem ambivalente Angelegenheit: Einerseits wurde die Katastrophe als Bruch des Generationenvertrags erlebt, als Betrug der Generation unserer Eltern und Großeltern (die diese Technologie entwickelt hatten) an unseren Kindern und Enkeln (die unter ihren Folgen nolens volens würden zu leben haben). Andererseits gab Tschernobyl Gelegenheit, die Angst der in einem Kellerloch um den Volksempfänger Versammelten zu wiederholen. Selbstverständlich erschien uns diese Mimikry als rationale Reaktion auf die neue Gefahr aus dem Osten – und nicht als Psychodrama. Irrational war nur die vergleichsweise Gelassenheit anderswo in Europa.
Solche Wiederholungen sind nicht zu vermeiden, aber vielleicht wäre es jetzt, zehn Jahre nach Tschernobyl und mehr als fünfzig Jahre nach Kriegsende, an der Zeit, sie durchzuarbeiten, damit allmählich eine echte geistige Nachkriegszeit beginnen könnte. Alexander Kluge tut seinen Teil dazu, wenn er beschreibt, wie die unvorbereiteten Öffentlichkeiten Rußlands und der Ukraine „den technologischen Unfall als eine Kriegserklärung gegen das Land“ auffaßten: „Einzelkämpfer, Kollektive, Kräfte vor Ort, Reserven aus der Zentrale wurden nacheinander an den Feind geführt... Aus denjenigen, die die ersten Stunden und Tage an dieser Front überstanden, bildet sich eine Generation der Erprobten, die Wege wissen, wie man sich in der unsichtbaren Gefahr bewegt, wo die Lücken der Strahlung liegen.“
Kluge beschreibt, wie mittels der Kriegsrhetorik eine neue Art der Gefährdung in einen Konflikt alten Typs zurückverwandelt wird. Aber man würde sein Buch mißverstehen, wenn man es als Beitrag zur Zivilisierung des Konflikts um die Kernkraft läse. Denn Kluge will sagen, daß alle, und also auch die zivilen Gesellschaften mit der Kernenergie überfordert sind, daß alle Gesellschaften durch sie in Kriegsgesellschaften zurückverwandelt zu werden drohen.
Ist das so? Kluge bringt in seinen Gesprächen mit beteiligten Ingenieuren und Militärs zwar eine Reihe von bestürzenden Informationen über die Lage vor Ort zutage. Aber dann kann er doch der Neigung nicht widerstehen, Tschernobyl aus allen Kontexten herauszulösen und zum Menschheitsmenetekel zu machen. Es ist richtig, die Verdrängung zu bekämpfen, aber das ehrfürchtige Starren auf das Grauen, in das Kluge verfällt, dient der Wahrheitsfindung sicher nicht. „Ein Teil des flüssigen radioaktiven Materials, zu einem heißen Brei vereinigt, floß im Keller zu einer Struktur zusammen, die den Beobachtern dem Fuß eines großen Tieres ähnlich schien. Sie nannten diese besonders intensiv strahlende Erscheinung den Elefantenfuß.“ Ein Bild wie aus dem Buch Daniel: Aber gerade weil hier überall Stoff für die apokalyptische Phantasie lauert, darf man von einem Kopf wie Kluge Stoizismus erwarten.
Statt dessen herrscht hier Appellstimmung, als solle ein Fahneneid gesprochen werden. Nach Tschernobyl gelte es, so Kluge, „dem Opportunismus zu widerstehen, nämlich der Verschwörung, die Menschen mit den Naturgewalten wegen einiger Vorteile eingehen, die sie daraus ziehen. Opportunismus dieser Art ist so schlimm wie Landesverrat oder Treuebruch im Krieg.“ Opportunismus? Treuebruch? Landesverrat? Verschwörung? Woher kennen wir die Melodie?
Ein Krieg gegen die Verschwörung, die die Menschen mit den Naturgewalten wegen „einiger Vorteile“ (wie Penizillin, Fernsehen und fließend warmes Wasser, auf die asketische Intellektuelle natürlich leicht verzichten können) eingehen? Theodore Kaczynski, ein ehemaliger Mathematikprofessor, besser bekannt unter seinem nom de guerre „Unabomber“, hat diesen Krieg nicht nur propagiert, sondern auch mit absoluter Treue geführt. Nachdem er drei der Verschwörer – Computerhändler und Wissenschaftler – mit Bomben getötet und 23 weitere verletzt hatte, druckten die großen amerikanischen Zeitungen sein Manifest, einen Kriegsaufruf gegen das „industrielle System“ und seine Opportunisten. Er hatte versprochen, dann mit den Anschlägen aufzuhören. Nach seiner Verhaftung erscheint er manchen als heiliger Mann, als Racheengel, der tut, was die Mehrzahl der ins System verstrickten Opportunisten nur denken. Man bewundert ihn in jenen Nischen des Internet, wo die Querulanten aller Länder sich online wechselseitig auf die Schulter klopfen. Ein „Kaczynski Defense Fund“ hat sich gebildet. Die Sympathie läßt sich vielleicht auch so verstehen: Einer von uns hat es endlich über die Leserbriefseiten und die Pseudoöffentlichkeit der „Newsgroups“ hinaus geschafft.
Alexander Kluge: „Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl“. Rotbuch Verlag, 162 Seiten, 18,90 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen