: Mit den Eltern für die Kinder
■ Kinderschutzhäuser entlasten auch Familien in Krisensituationen Von Patricia Faller
Seine Kleidung war schmutzig und heruntergekommen. Wohin er blickte, konnte man nicht feststellen, denn seine Augen drehten sich in völlig verschiedene Richtungen. Auch mit dem Gehen hatte der eineinhalbjährige Wilfried Probleme. Er geriet leicht ins Taumeln und fiel häufig gegen die Heizung oder andere Einrichtungsgegenstände.
„Geistig retardiert“ sei der kleine Junge gewesen, als er ins Altonaer Kinderschutzhaus des Landesbetriebs für Erziehung und Berufsbildung (LEB) kam, erklärt die Sozialpädagogin Ines Stade. Das Zuhause beschreibt sie als völlig verwahrlost. Die 19jährige Mutter sei mit dem Kind und dem Haushalt völlig überfordert gewesen, der Vater ein Alkoholiker ohne Arbeit. Nachbarn hatten eine Mitarbeiterin der Sozialen Dienste auf die Zustände aufmerksam gemacht. Die junge Mutter schien fast erleichtert gewesen zu sein, als er abgeholt wurde, obwohl sie ihrem Sprößling durchaus liebevoll zugewandt war.
„Wenn vom Kinderschutzhaus die Rede ist, dann denken die meisten Leute immer gleich an mißhandelte oder mißbrauchte Kinder“, erklärt Brigitte Stobbe, LEB-Referentin für Hilfen zur Erziehung. Viel häufiger aufgenommen würden aber vernachlässigte Kinder oder Kinder von Alleinerziehenden, die beispielsweise ins Krankenhaus müssen, oder Kinder von psychisch- oder suchtkranken Müttern – kurz aus Familien in Krisensituationen.
Etwa 40 Kinder im Alter bis zu sechs Jahren fanden dort seit der Eröffnung im vergangenen Jahr ein vorübergehendes Zuhause. Unlängst wurde ein weiteres Kinderschutzhaus im Bezirk Harburg eröffnet. Fünf ErzieherInnen und zwei hauswirtschaftliche Fachkräfte sind im Schichtdienst rund um die Uhr für die Kinder da.
An dem geschützten Ort lernte Wilfried bald richtig laufen. Im Spiel mit den anderen Kindern und durch die gezielte Förderung holte der kleine Junge in seiner Entwicklung auf. Das stellte auch seine Mutter fest, die ihn regelmäßig besuchen kommt. Denn das LEB-Konzept sieht vor, daß die Kinder in den jeweiligen Bezirken, also möglichst wohnortnah untergebracht werden. Der Kontakt zu den Familien soll nicht abbrechen. Diese werden in die Problemlösung miteinbezogen.
„Man kann den Kindern nur gerecht werden, wenn man die Eltern so unterstützt, daß die positive Förderung, die die Kinder im Kinderschutzhaus erfahren, auch weiterläuft“, erläutert Ines Stade den Ansatz der Kinderschutzhäuser. Wilfrieds Mutter zum Beispiel wird dazu angehalten, zu Terminen beim Kinderarzt mitzukommen. Bei ihren Besuchen im Kinderschutzhaus lernt sie, wie man ein Kind wickelt, wann die Mahlzeiten fällig sind oder wie man ein Kind zur Ruhe bringt.
Für die Zeit danach organisiert die Koordinatorin als Entlastung für die Familie beispielsweise auch eine sozialpädagogische Familienhilfe. Diese gibt praktische Hilfe wie Anleitungen fürs Putzen, wirtschaftliches Einkaufen oder für die Schuldenregulierung.
Für den Erfolg dieses Konzepts sprechen die Zahlen: 70 Prozent der Kinder können zu ihren Eltern zurückkehren. Für einige der Kinder müssen aber Pflegefamilien gesucht werden. LEB-Fachreferentin Brigitte Stobbe hat allerdings die Erfahrung gemacht, daß viele Pflegeeltern recht blauäugig an die Sache herangehen: „Die sehen nur das niedliche Kind und denken, daß eine intakte Familie schon alles richten wird.“ Vergessen werde dabei, daß die Kinder bereits eine eigene Geschichte haben. „Wenn ein Säugling zum Beispiel nicht regelmäßig zu essen bekam, dann steht der Todesängste durch. Das ist eine unglaubliche Hypothek“, so Brigitte Stobbe. Da müßten die Pflegeeltern wissen, was auf sie zukommt. „Denn wenn sie das Kind dann wieder weggeben, ist das für die Kleinen wirklich schlimm.“
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