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Im Land des hungrigen Krokodils

In der Klinik gibt es keine Medizin, im Postamt keine Post, im Gefängnis keine Justiz und im Zoo kein Futter: Absurde Auswüchse des Alltags im verlassenen und verarmten Nordosten Zaires  ■ Aus Kisangani Jörg Schulze

Wenn man eines in Zaire auf jeden Fall vermeiden sollte, dann ist es Krankwerden oder gar einen Unfall haben. Man könnte Pech haben und von einem Krankenwagen in ein staatliches Krankenhaus gebracht werden. Dort kann man dann zwölf Stunden lang liegen, ohne einen Arzt zu Gesicht zu bekommen.

Das will der Direktor des Regionalkrankenhauses in Kisangani gar nicht erst abstreiten. Was mit der einst größten Klinik im Nordosten Zaires passiert ist, läßt sich ohnehin nicht verbergen: In den meisten Gebäuden fehlen die Fenster, der Putz blättert von Decken und Wänden. Hierher kommt nur, wer sich keine private oder kirchliche Klinik leisten kann. „Manche lassen ein altes Hemd oder eine Hose hier, wenn sie operiert wurden, und sagen, sie kommen später wieder, um zu bezahlen“, berichtet der Chefarzt. Solche Honorare seien die einzige Einnahmequelle des Krankenhauses, von denen oft auch noch die Löhne der Schwestern und Ärzte bezahlt werden müßten.

Der Direktor selbst arbeitet seit 17 Jahren in dem Hospital und hat es zum Sécrétaire médical gebracht, dem höchsten Rang, den ein Arzt im Staatsdienst erreichen kann. Trotzdem verdient er deutlich weniger als ein Hilfsarbeiter auf dem freien Markt. „Von den acht Dollar könnte ich meine Familie gerade mal drei Tage ernähren“, sagt er. Deshalb hat er sie bei Verwandten in einer anderen Stadt untergebracht, denen es besser geht.

Die plündernden Soldaten, die hier während der Armeerevolten 1991 und 1992 durchzogen, nahmen alles mit, was sie tragen konnten. Nichts in den Räumen erinnert seitdem mehr an Krankenzimmer: Nackte Wänder und Estrichfußböden, in den Ecken stapelt sich altes Gerümpel. Dazwischen ein paar schäbige Bettgestelle. Medizinische Geräte sucht man vergebens. Da steht er nun, der Chefarzt, zwischen den Trümmern und blickt beschämt zu Boden. „Die ganze Sitution erstaunt uns manchmal selbst. Bei einem großen und unabhängigen Land wie unserem ...“

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„Viele fahren hier Auto ohne Führerschein und Versicherung“, erzählt der modisch gekleidete Diamantenhändler aus Kisangani. Er ist 25 Jahre alt und hat ein ständiges Zimmer im Hotel. „Wenn man einen Unfall baut“, fährt er fort, „und selbst dann, wenn jemand ins Krankenhaus muß –, man müßte die Kosten selbst bezahlen. Was soll's? Wenn ich weiß, daß der Polizist seit drei Tagen nichts mehr gegessen hat, dann gebe ich ihm zehn oder zwanzig Dollar, und er schließt die Ermittlungen ab.“

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In Zaire wird viel über Sicherheit geredet, aber nicht alle verstehen darunter dasselbe. Sagt ein Soldat, der auf dem Weg zu seinem Heimaturlaub seine Kalaschnikow in den Bus mitgebracht, jetzt habe man viel Sicherheit an Bord, verstehen alle Zivilisten dagegen unter dem Begriff das Glücksgefühl, wenn gerade keine Uniform in Sicht ist.

Diktator Mobutu hat eine verwirrende Anzahl von Sicherheitsorganen geschaffen, die sich gegenseitig in Schach halten sollten, und die alle versorgt werden wollen. Seit die Inflation ihren kargen Sold auffrißt, halten sie sich an der Bevölkerung schadlos. Nachts gehen Gruppen von Soldaten mit oder ohne Uniform auf Jagd und nehmen sich ihren Tribut mit Gewalt.

Wo gestern noch eine freie Straße war, kann morgen schon eine Straßensperre sein. Manchmal liegen nur zwei Steine am Straßenrand, die jedoch niemand übersieht. Die Zivilisten haben sich längst ihrem Schicksal ergeben. Diskutiert wird nicht mehr. Meist haben die Zairer das Geld schon vorbereitet in der Tasche und übergeben es unauffällig der ausgestreckten Hand. Hat man kein Geld, dann zahlt man in Naturalien.

Manche Soldaten haben ihren mühsamen Broterwerb schon rationalisiert. „Immer wenn Weihnachten kommt, müssen wir Angst haben“, berichtet ein deutscher Geschäftsmann in Goma, der nicht namentlich genannt werden möchte, „weil die dann immer diesen christlichen Schmu mit ins Kalkül bringen.“ 1992 und 1993 hatten die Soldaten in Goma zahlreiche Geschäftshäuser und öffentliche Einrichtungen geplündert. „Weihnachten 1994 haben sie dann gedroht, sie plündern wieder, wenn wir nicht zahlen“, so der Fleischereibesitzer. Dann hätten die Geschäftsleute gesammelt, 30.000 US-Dollar insgesamt, und die Soldaten ausbezahlt. „Das entspricht so ungefähr dem, was die in drei Monaten verdienen würden.“

Was in Goma einmalig blieb, ist in der rund 350 Kilometer nördlich gelegenen Stadt Butembo gang und gäbe. Die Geschäftsleute haben sich zusammengetan und bezahlen monatlich den Sold der dort stationierten Soldaten. „Seitdem ist dort Ruhe eingekehrt“, berichtet der Ladenbesitzer mit ein bißchen Neid in der Stimme.

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Die Post in Kisangani ist ein geschichtsträchtiges Gebäude. Der große Befreiungsheld Patrice Lumumba hat hier Ende der fünfziger Jahre, noch während der belgischen Kolonialherrschaft, als Postbeamter gearbeitet, und der polnische Schriftsteller Ryszard Kapuscinski schickte von hier während der sozialistischen Rebellion Anfang der sechziger Jahre nach Lumumbas Ermordung seine Depeschen nach Europa. Heutzutage ist die imposante Schalterhalle verwaist.

Nein, telefonieren könne man hier nicht, erklärt eine der drei Frauen, die sich hinter dem langen Tresen verlieren. Die Telefonanlage habe im Augenblick eine Störung. Aber im nächsten Jahr werde sie wieder funktionieren. Dann kommt ihr eine Idee: „Aber schreiben kann man“, schlägt sie in freudiger Erwartung vor. Also beklebt sie die Briefe umständlich, weil die Vorderseite nicht ausreicht, auch noch auf der Rückseite mit Briefmarken – jede im Wert eines halben Monatslohnes der meisten Zairer – kramt eine Stempel aus einem verstaubten Schubfach, erkundigt sich bei den Kunden nach dem Datum und stellt es umständlich ein. Dann verschwinden die gestempelten Briefe in einer Kiste. Ankommen werden sie nie.

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Gespräch mit einem Lokaljournalisten: „Gibt es in Kisangani eine Feuerwehr?“ – Zögerndes Kopfschütteln: „Aber am Flughafen gibt es einen Löschwagen.“ – „Kommt der in die Stadt, wenn es brennt?“ – „Nein.“ – „Was macht ihr denn dann bei einem Feuer?“ – „In Zaire muß man sich irgendwie zu helfen wissen.“

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Und auf geht die windschiefe Holztür in ein Gebäude, das von außen aussieht wie ein steinernes Fort und im Innern an eine stark in Mitleidenschaft gezogene Kellerflucht nach einem Bombenkrieg erinnert. Trotzdem hausen in dem noch aus der Kolonialzeit stammenden Munzenze-Gefängnis im ostzairischen Goma rund 350 Männer, manche seit mehreren Jahren.

60 Gefangene teilen sich eine 30-Quadratmeter-Zelle, und auch mit ihrer Handvoll persönlichen Sachen „wissen sie sich zu helfen“, wie der Gefängnisdirektor nicht ohne eine gewisse Anerkennung feststellt: Eine mit einem Nagel an der Wand befestigte Plastiktüte ersetzt den Spind, an Schnüren aufgehängte Decken dienen als Trennwände. Eine Matratze besitzt keiner, nicht einmal alle haben eine Decke, obwohl es in de 1.450 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Goma nachts bisweilen empfindlich kühl wird.

Wenn es aus einer bestimmten Richtung regnet, müssen diejenigen aufstehen, die an den Fensterlöchern liegen, weil es hineinregnet. Aber auch den anderen dürfte es nicht viel besser gehen – die großen Löcher und Wasserflecken an der Decke lassen darauf schließen.

„Und dies hier ist unsere Krankenstation, wo wir diejenigen isolieren, die sich angesteckt haben“, sagt der Direktor und betritt einen Raum, der sich durch nichts von den anderen unterscheidet, außer daß er viel kleiner ist und überhaupt keine wärmenden Decken darin sind. „Manchmal wurden die Gefangenen, die aus den Polizeistationen kommen, auch gefoltert“, beschwert sich der Direktor, „die müssen dann auch hier untergebracht werden.“

Zu Essen kann er seinen Gefangenen nichts geben, denn das Geld, das aus der Hauptstadt kommt, reicht nicht einmal, um ihn selbst zu ernähren. Deshalb bringt die Hilfsorganisation „Associations Muungano Solidarité“ jeden Tag Bohnen und Maismehl für die Gefangenen und versorgt das Gefängnispersonal mitsamt ihren Familien gleich mit. „Es ist schon öfter vorgekommen, daß Gefangene länger im Gefängnis blieben, weil sie einfaach vergessen wurden“, berichtet der bei Solidarité beschäftigte Minamo Kangeshenge Venant. „Deshalb rede ich mit so vielen Gefangenen wie möglich und versuche, bei dem zuständigen Richter Druck zu machen.“

Außer dem Gefängnis versorgt die Hilfsorganisation auch noch die vier größten von rund einem Dutzend cachots in Goma mit Nahrungsmitteln. In diesen den Polizeistationen angeschlossenen Holzbaracken sind bis zu hundert Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht. Oft nimmt die Polizei die Leute aus reiner Geldgier fest. Wer Verwandte oder Bekannte hat, die die geforderte Summe aufbringen können, kommt frei; wer nicht, kann schmoren.

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Traurige Tropen. Denn nicht nur die Menschen leiden, sondern auch die Tiere. Wenn der Direktor des Zoos von Kisangani Besucher durch seine Anlage führt, befällt ihn der Katzenjammer. Nicht viel ist mehr von der malerisch am Flußufer gelegenen Anlage übriggeblieben, denn seit 1990 hat der Tiergarten vom Staat keinen Pfennig mehr bekommen.

Wenn der Zoodirektor von früher erzählen kann, verläßt ihn für kurze Zeit der Schwermut, und man meint sogar einen Anflug leuchtender Augen bei ihm zu erkennen: Einst hatte Kisangani den größen von drei Zoos in Zaire, mit Elefanten, Giraffen und Tigern. Vor allem für Familien sei der Tiergarten, der vom schützenden, kühlen Wald umgeben ist, am Wochenende das beliebteste Ausflugsziel gewesen. Und dann macht der Direktor sich doch auf und zeigt, was ihm außer verfallenen und überwucherten Käfigen noch geblieben ist. Einige einheimische Affen, die müde in einem Drahtverhau hocken, und eine kleine Schildkröte. Die holt er unter einem Stein hervor. Kopf und Beine zeigt sie nicht, auch wenn der Direktor darauf besteht, daß sie auf jeden Fall noch am Leben sei.

Sein ganzer Stolz gilt unbestritten einem abgemagerten Krokodil, das in der Ecke einer Grube liegt und vor sich hin stiert. „Futter für das Krokodil zu besorgen“, erklärt er dann, „ist das schwierigste, weil es so teuer ist.“ Ab und zu brächten die Leute einen toten Hund vorbei. „Das reicht dann immer so ungefähr für zwei Wochen. Einmal haben wir dem Krokodil einen lebendigen Hund in den Käfig getan, aber da war es offenbar schon zu schwach, um ihn selbst zu fangen.“ Deshalb bekommt es die Hunde jetzt immer aufgeschnitten. Inzwischen hat das Reptil vor drei Wochen zum letzten Mal gefressen. Wohl ist dem Direktor nicht dabei: „Manchmal habe ich mir schon überlegt, ob ich es nicht einfach freilassen sollte.“

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