Amtsgericht
: Eigentlich nur ein Stein

■ Der Richter rät dem 24jährigen Hausbesetzer zum Blick in die Bibel

Der Richter trägt die Stirn sorgenvoll gefaltet und die Augenbrauen hochgezogen. Mit seinem Tonfall könnte er ohne weiteres das Wort zum Sonntag bestreiten. Hat sich denn der Angeklagte schon einmal ernsthaft um eine feste Bleibe bemüht? Oder sich Gedanken um eine Berufsausbildung gemacht? Ja schon, sagt Stephan H., aber das habe ich mir dann meistens selber vermasselt. Der 24jährige lebt, seitdem er das niedersächsische Elternhaus verlassen hat, in Berlin mal auf der Straße und mal in besetzten Häusern und schnorrt sich den täglichen Bedarf zusammen.

Nun ist er aus der Untersuchungshaft vorgeführt worden. Zum lila Strickpullover und der schlecht sitzenden blauen Stoffhose trägt er ein zerzaustes rotes Palästinensertuch. Trotz seiner Größe und der kräftigen Statur hat Stephan H. etwas Kindliches: das volle, rosige Gesicht, das verschämte Grinsen, die eckigen Bewegungen. Der blonde Irokesenkamm, dem man frühere Färbungen ansieht, erhebt ihn immerhin in das Alter des Spätpubertierenden.

H. ist wegen schweren Landfriedensbruchs angeklagt. Am fünften Jahrestag der Räumung der Mainzer Straße im vergangenen November soll er im Anschluß an eine Demonstration aus zehn bis zwölf Metern Entfernung mehrere Steine in Richtung der Polizisten geschleudert haben.

„Tja, das waren aber nicht mehrere Steine, sondern eigentlich nur einer“, erklärt H. „Mehr konnte ich gar nicht, weil ich dann so tierische Schmerzen in den Schultern hatte. Die hab' ich mir mal ausgerenkt. Und als dann immer mehr Polizei kam, auch mit Wasserwerfern, hat meine Freundin Panikanfälle gekriegt. Da hab' ich mich dann um sie gekümmert.“

Der Polizist, der H. damals festgenommen hatte, hat es jedoch anders gesehen: „Herr H. hat eindeutig mehrere Gegenstände geworfen.“ Der Richter seufzt und sieht den Angeklagten über den Rand der Brille an. „Bei allem Verständnis für das, was die Polizei für junge Menschen darstellt – haben Sie mal daran gedacht, daß das genauso Männer wie Sie sind, die nur zufällig – oder auch nicht zufällig – einen anderen Beruf haben? Und vielleicht haben Sie ja auch mal einen Blick in die Bibel geworfen. Da hat man mit Steinewerfen Todesurteile vollstreckt. Das ist eine höchst gefährliche Sache.“ H. senkt brav den Kopf und murmelt etwas wie „ja, Scheiße gemacht“.

Das Gesetz, erläutert der Staatsanwalt, differenziert nicht nach der Zahl der Steinwürfe. Schon ein einfacher Wurf erfüllt den Straftatbestand, für den eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und zehn Jahren vorgesehen ist. Im „vorliegenden Fall“ hält der Staatsanwalt ein Jahr Gefängnis „für dringend erforderlich“, aber auch, da H. sich reuig zeige und nicht vorbestraft sei, „für ausreichend“. Die Strafe könne jedoch zur Bewährung ausgesetzt werden. Der Verteidiger des Delinquenten möchte zwar das Urteil um vier Monate gemildert sehen, bleibt mit seiner Forderung aber um zwei Monate über der Mindeststrafe.

Im Namen des Volkes ergeht das Urteil: ein Jahr Knast auf drei Jahre Bewährung. Der Richter nimmt sich Zeit, um das Urteil und die Bewährungsauflagen zu begründen. Schließlich hat er aus H.s „Zwischentönen“ herausgehört, da dieser guten Willens ist. Nun muß sich der junge Landfriedensbrecher polizeilich melden – „denn ich kann ja nicht an jede Litfaßsäule einen Brief kleben lassen, wenn ich Sie erreichen will“ – und sich in die Obhut eines Bewährungshelfers begeben. Das Wort zum Sonntag endet mit des Richters Wunsch. „Ich hoffe, daß wir uns nicht mehr sehen.“ Annette Fink

Die nächste Folge von „Amtsgericht“ erscheint am kommenden Montag