: Einfach vorbildlich subversiv
■ Christian Specht ist geistig behindert und politisch aktiv: Ein Filmportrait von Thomas Winkelkotte und Imma Harms
Christian Specht ist Mitarbeiter der taz und nutzt seinen Schreibtisch dort nicht selten. Aber er arbeitet nebenher außerdem noch freischaffend bei der PDS, bei der FDP, bei der SPD und bei Bündnis 90/Die Grünen. Weil er als Linker zudem gern bei den Autonomen mitmacht und auf fast allen Demos dabei ist, kennen ihn unglaublich viele Berliner.
Vielleicht haben seine genialen Playback-Volksmusik-Shows im Offenen Kanal auch für Starruhm in anonymen Fernsehzuschauerkreisen gesorgt, man weiß es nicht. Aber solche Fragen zu beantworten ist wohl auch nicht das wichtigste Anliegen des Dokumentarfilms „Oh Mitternacht, oh Sonnenschein“ von Imma Harms und Thomas Winkelkotte. Die beiden Filmemacher sind dem Künstler und Aktionspolitologen Christian Specht im vergangenen Sommer mit der Kamera in alle möglichen Büros und Amtsstuben gefolgt, haben ihn auf Demos begleitet und zu Hause bei seiner Oma in Neukölln besucht. Dabei ist ein unterhaltsames und leichtfüßiges Portrait entstanden, das eher nebenbei über Christian Spechts Behinderung erzählt.
Weil er weder lesen noch schreiben kann, gestaltet sich sein Alltag zuweilen kompliziert. Das beginnt mit einer Auflage des Sozialamtes, wonach dem 27jährigen Christian das U-Bahnfahren nur in Begleitung erlaubt wird, und endet bei bitteren Erfahrungen, die er mit vermeintlichen Genossen macht. Diese wollen ihn zum Beispiel nicht im Bus zu Demos außerhalb Berlins mitfahren lassen. In einer Szene des Films erzählt er, wie er sich gegen solche Ausgrenzungsversuche zur Wehr setzt: Er nahm sich für 500 Mark ein Taxi und fuhr allein zur Demo, um den anderen zu zeigen, daß er auf ihre Hilfe nicht angewiesen ist. Trotzdem haben sie ihn auch auf der Rückfahrt nicht mitgenommen.
Aber die Leute, mit denen Christian fast täglich zu tun hat, sind nicht nur komische oder gemeine Typen: Ähnlich wie die beiden Filmemacher gehören Christians ehemalige Lehrerin, das Empfangskomitee der taz und diverse Schreiner zu einem Netzwerk von Leuten, die Christian bei seinen Aktionen unterstützen.
Und warum sie für Christian Holzkameras basteln oder Transparente malen, weiß man spätestens am Ende des Films. In der Art, wie Christian Mikrophonkabel schwenkt, wie er singt oder auch Zivilbullen auf Demos enttarnt, bietet er vorbildlich subversive Unterhaltung mit einem absolut sicheren Gespür, seinerseits immer im Dienste der richtigen Sache tätig zu sein.
Der leider nur 52 Minuten lange Film ist ein Muß für seine Freunde und eine Entdeckung für die, die Christian Specht noch nicht kennen. Dorothee Wenner
„Oh Mitternacht, oh Sonnenschein“ – Begegnungen mit Christian Specht. Regie und Buch: Thomas Winkelkotte und Imma Harms. Deutschland 1995, 52 Min. Täglich 19.15 Uhr, fsk, Segitzdamm 2, Kreuzberg
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