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Wortgeklingel gegen das Kapital

■ Der DGB rief zum 1.Mai, und 100.000 kamen. Doch sie hörten nur bereits bekannte Parolen. DGB-Chef ausgepfiffen

Berlin (taz) – „Höchste Zeit für neue Zeiten“ hieß die Parole des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), mit der gestern über 100.000 DemonstrantInnen von Oberammergau bis Kiel ins Feld zogen. Allein in Baden-Württemberg gab es 70 1.-Mai-Kundgebungen, in Niedersachsen an die 100. Die zentrale Manifestation fand in Berlin statt. DGB-Chef Dieter Schulte nannte dort die Bonner Sparpläne einen „Marschbefehl in eine andere Republik“. Die Arbeitgeber hätten sich vom Bündnis für Arbeit verabschiedet und die Regierung zu ihrem „Büttel“ gemacht. Schulte: „Wir haben die Hand zum Bündnis ausgestreckt. Wenn jetzt aber Regierung und Unternehmen den Konflikt suchen, werden sie unsere geballte Faust finden.“ Wer die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall angreife, spiele mit dem Feuer.

Es waren militante Worte, bloß hören konnte sie in Berlin fast niemand. Schultes vom Blatt abgelesene Rede wurde übertönt von einem nicht enden wollenden, ohrenbetäubenden Pfeifkonzert. Rund die Hälfte der 20.000 KundgebungsteilnehmerInnen wünschte Schulte Feuer unterm Hintern oder, noch drastischer, gleich die ganze „DGB-Führung weg!“. Statt ein Bündnis mit dem Kapital forderten sie ein „Bündnis von unten“. So wurde der Tag, an dem die Gewerkschaften eigentlich die Kampfkraft ihrer Mitglieder gegen den „Sozialraub“ testen wollten, zu einer Demonstration gegen Sozialpartnerschaft.

Dementsprechend gelassen kommentierten die Architekten des Sozialabbaus die gewerkschaftlichen Verbalattacken. Arbeitsminister Norbert Blüm: „Nach dem 1.Mai gibt es auch einen 2.Mai, und nach den Kundgebungen kommt wieder der Alltag. Die Probleme werden nicht durch Konfrontation, sondern durch Kooperation gelöst.“ Und CDU-Generalsekretär Peter Hintze winkte gleich alles ab – als „alte Kampfrituale“.

Bei der „Revolutionären Maidemo“ linker und autonomer Gruppen kam es in Berlin am Nachmittag zu Ausschreitungen. Am Kollwitzplatz im Bezirk Prenzlauer Berg begannen DemonstrantInnen Steine und Flaschen auf Polizeiwagen zu werfen. Die Schlußkundgebung wurde abgebrochen. Es gab erste Festnahmen. Die mehr als 10.000 DemonstrationsteilnehmerInnen waren zuvor ohne größere Zwischenfälle durch Prenzlauer Berg zu dem Platz gezogen. Dort hatte es schon in der vorangegangenen Nacht nach einem friedlichen Straßenfest Krawalle gegeben. Ein weiterer, kleinerer Demonstrationszug war aus Kreuzberg unterwegs. Rund 4.500 Polizisten, auch aus den neuen Bundesländern, befanden sich im Einsatz.

In Stuttgart gab es während der Kundgebung Rangeleien zwischen der Polizei und Sympathisanten der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. In Berlin wurden bei der DGB-Demo sieben vermutliche PKK-Anhänger festgenommen. Einige von ihnen trugen Waffen bei sich.

Die längsten Gesichter waren im schwäbischen Gaildorf zu sehen. Dort hoffte der DGB vergeblich auf den Kundgebungsredner Gregor Gysi. Der PDS-Politiker mußte aber am Kampftag der internationalen Arbeiterklasse seiner Frau beistehen, die in diesen Stunden ein Kind erwartet. Anita Kugler Seiten 2 und 4

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