Skandalöser Leerstand

■ betr.: „Over – völlig losgelöst“, Gastkommentar von Jörg Schön bohm, taz vom 23. 4. 96

Sehr geehrter Herr Innensenator Schönbohm, die hohe Meinung, die ich zu Beginn Ihrer Amtszeit durch berufliche Recherchen zu Ihrer Herkunft über Sie gewann, hat in den letzten Wochen sehr gelitten. Durch Ihren taz- Kommentar muß ich jetzt sogar ernsthaft an Ihrer Integrität zweifeln. Sie rechtfertigen da eine rechtlich äußerst zweifelhafte Entscheidung, nämlich die polizeiliche Räumung von Wohnraum nach über einem Jahr in mindestens fünf Fällen (Alt-Stralau 46), nach über fünf Jahren (Pallisadenstraße 49) mit Argumenten, die weder Hand noch Fuß haben und außerdem mit Behauptungen, die glatt gelogen sind.

Die Berlinier Linie ist eine Verwaltungsrichtlinie, die dem Handeln der Polizei einen Ermessensspielraum setzt, ohne jedoch geltendes Recht zu brechen. Solange der Straftatbestand des Hausfriedensbruchs § 123 StGB besteht, kann die Polizei nach § 17 ASOG räumen, sie muß dies jedoch nicht. Im Fall des Hauses Alt-Stralau 46 wurde ein Räumungsbegehren der WBF im Sommer 1995 vom Polizeipräsidenten abschlägig beschieden, da er die allgemeine Sicherheit und Ordnung nicht gefährdet sah. Selbstsverständlich kann sich die Situation ändern, doch worin bestand die Änderung?

Die BewohnerInnen von Alt- Stralau 46 haben mit ihrer Besetzung auf ein soziales Problem aufmerksam gemacht, nämlich auf den skandalösen Leerstand in Berliner Immobilien. Auf allen Ebenen (WBF, ERB, BRB) versuchten die BewohnerInnen einvernehmliche Lösungen zu finden, bemühten sich um Verträge (Miete, Pacht, Ausbaumietvertrag, Genossenschaft). Diese Menschen haben dort ganz normal gelebt, Reparaturen vorgenommen und das Haus vor dem Verfall gerettet. Und da sehen Sie die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet?

Sie möchten gerne die rechtlich einwandfreie Räumung, um Ihre weiße Weste nicht weiter beschmutzen zu müssen, aber dann müssen Sie sich auch richtig informieren, über Gesetze und Rechte, denn auch HausbesetzerInnen sind Bürger dieses Staates, gehen arbeiten, zahlen Steuern, bekommen Kinder. Auch HausbesetzerInnen haben Rechte. Dieses Recht ist durch §§ 861 und 864 BGB geregelt. Dort heißt es, daß wenn ich eine Sache ein Jahr lang in meinem Besitz hatte, ob widerrechtlich oder rechtlich spielt dabei keine Rolle, mir Rechte aus diesem Besitz erwachsen. Der Straftatbestand des Hausfriedensbruchs ist dann nicht mehr gegeben, der vormalige Besitzer kann nicht mehr in Eigenmacht handeln, er muß auf dem zivilrechtlichen Wege, die Herausgabe seines Eigentums erreichen.

Im Falle der Pallisadenstraße 49 haben Sie einfach den dreisten Lügen eines dahergelaufenen Hausbesitzers geglaubt, der schon vor zwei Jahren mit martialischer Gewalt versucht hatte, das Haus räumen zu lassen. Solchen gewaltbereiten Menschen glauben Sie, während Sie die eidesstattlichen Versicherungen des Bezirksamtes und anderer neutraler Stellen, daß die BewohnerInnen dort schon seit über fünf Jahren leben, einfach ignorieren.

Ebenso der Fall Alt-Stralau 46, wo in mindestens fünf Fällen die BewohnerInnen seit über einem Jahr dort wohnen, bei den anderen fehlten nur drei Wochen, das ist hochgradig zynisch. Übrigens befindet sich das Haus Alt-Stralau 46 im Restitutionsverfahren, was der WBF bezüglich Modernisierung oder Instandsetzung die Hände bindet, Nutzungsverträge aber möglich macht. Die nachfolgende Nutzung ist also keineswegs gesichert, und so wird das Haus jetzt dem Verfall preisgegeben. Ein Skandal!

[...] Mit Ihren Häuserräumungen erzeugen Sie großen Unmut bei den AnwohnerInnen, gehen Sie in die Bezirke, reden Sie mit den Menschen dort.

Und um Ihre Ausfälle gegen die PDS und Freke Over historisch zu kommentieren: Soziale Bewegungen bedürfen keiner Partei und keines „Führers“. Sie entstehen in allgemeinen politischen Trendsituationen quasi als Selbstläufer. Verstärkte Repression kann diese Bewegungen eine gewisse Zeit lang unterdrücken, führt jedoch letztendlich zur Gegenwehr. Revolutionen werden ohne Parteien gemacht. [...] Anette Klumb

[...] Es ist keineswegs unsere Absicht, jemanden zu schädigen, am allerwenigsten andere sozial benachteiligte Gruppen. Im Gegenteil, Alt-Stralau 46 stand größtenteils leer und wir bemühten uns während der ganzen Zeit um vertragliche Vereinbarungen mit der WBF oder einem anderen Eigentümer, wir zahlten Strom, Gas und teilten uns die Nebenkosten mit den MieterInnen. Diese fühlten sich nicht bedroht durch uns, sondern ihr Leben in diesem bis dahin fast leeren Haus bereicherten wir auch durch die Pflege des Gartens, Fahrradständer, Zusammenkünfte. Wäre das Haus diesen Winter leergestanden, wären nicht nur drei, sondern alle Steigleitungen geplatzt. Die Wasserrohrbrüche wurden von den BewohnerInnen in Eigeninitiative und mit eigenen finanziellen Mitteln behoben. Auch andere Instandsetzungs- und Reparaturarbeiten wurden von den BewohnerInnen vorgenommen, wofür uns die WBF eigentlich dankbar sein müßte. Jeder, der etwas vom Bau versteht, weiß, daß Leerstand den Verfall eines Gebäudes beschleunigt, und Alt-Stralau 46 war keine Bruchbude, sondern bester Wohnraum mit Thermofenster, Gasheizung und -durchlauferhitzer.

Die Behauptung, daß allen BewohnerInnen günstiger Wohnraum angeboten wurde, ist falsch. Es gab lediglich vier Wohnungsangebote. Die Ernsthaftigkeit dieser Wohnungsangebote muß aber schwer angezweifelt werden. So wurde Freke Over eine Wohnung angeboten, die nur mit Sozial- WBS zu haben ist, mit seinem Abgeordnetengehalt ein blanker Hohn. Die zweite Wohnung, die ihm angeboten wurde, stand gleichzeitig in einer Berliner Zeitung zum Angebot und war schon vergeben. Beim dritten Wohnungsangebot handelte es sich um ein restitutionsbehaftetes Haus, bei dem keine neuen Mietverträge abgeschlossen werden dürfen, so erschien zu den anberaumten Besichtigungsterminen auch kein Mitarbeiter der WBF. Das vierte Wohnungsangebot befand sich in einem in der Instandsetzungsphase befindlichen Plattenbau ohne Fenster. Alle anderen 33 Bewohner, inklusive eine Familie mit acht Monate altem Säugling, bekamen kein einziges Wohnungsangebot. Auch jetzt, nach der Räumung wurden uns noch keine Wohnungsangebote von der WBF gemacht, trotz gegenteiliger Zusagen des Direktors des Abgeordnetenhauses. Übrigens haben wir uns auch in die Reihe der Wohnungssuchenden eingereiht und bereits vor einem Jahr Wohnraumbewerbungsanträge bei der WBF eingereicht.

Daß sozial schwache und kinderreiche Familien monatelang nach billigem Wohnraum suchen müssen, ist tatsächlich ein Skandal, Herr Schönbohm, gerade angesichts 5.000 leerstehender Wohnungen allein in Friedrichshain. Aber Wohnen ist ein Grundrecht und willkürlicher Leerstand verboten. Wer bewegt sich denn hier im rechtsfreien Raum?

[...] Weder Herr Over noch ein anderer Gesinnungsgenosse haben zu gewalttätigen Gegenmaßnahmen aufgerufen, dies ist auch gar nicht nötig, denn: Wenn in Berlin bewußter Leerstand produziert wird, dann wird das Grundrecht auf Wohnraum verletzt und hier erlaubt die Berliner Verfassung Widerstand (Art. 28, 1 und Art. 36, 3).

Im übrigen kann Innensenator Schönbohm keine seiner Behauptungen durch schriftliche Beweise stützen, während wir die Wahrheit durch Briefverkehr und viele andere Belege beweisen können. Die ehemalilgen BewohnerInnen von Alt-Stralau 46