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"Ich bin für eine Ethik der Unsicherheit"

■ Der Jurist Reinhard Merkel widerspricht Peter Singers umstrittener Definition des "Lebensinteresses" von Neugeborenen. Aber er beharrt darauf, daß die Debatte um die Entscheidungsnot in medizinisc

taz: Wenn der Name des Bioethikers Peter Singer fällt, endet in Deutschland die Diskussion. Spricht Singer tatsächlich akute Fragestellungen an, und inwieweit herrscht in den Kliniken tatsächlich Entscheidungsnotstand?

Reinhard Merkel: Es gibt jedenfalls Entscheidungsprobleme, und zwar in wesentlich mehr Fällen, als die Öffentlichkeit weiß. Eine ältere Schätzung für Deutschland besagt, daß jährlich in etwa 1.200 Fällen entschieden wird, ob ein Kind mit schwersten Mißbildungen nach der Geburt „liegengelassen wird“, wie es heißt. Es bekommt in aller Regel Ernährung und Schmerzbehandlung, von lebenserhaltenden Maßnahmen sieht man ab. Mit den neuen Bundesländern dürfte die Zahl etwas über 2.000 liegen. Das ist so hoch, daß die Gesellschaft sich damit beschäftigen muß. Ich weiß aus meinen Gesprächen mit Ärzten, daß sie sich zunehmend alleingelassen fühlen. Sie sagen, entweder die Gesellschaft nimmt die Diskussion an und hilft uns, die Entscheidungskriterien zu klären und die Verantwortung zu tragen, oder sie läßt uns in Ruhe, zieht aber bitte schön auch ihre Staatsanwälte zurück.

Können Sie Fälle schildern, die die unterschiedliche Schwere solcher Entscheidungssituationen im Falle Neugeborener zeigen?

Zuerst einmal müßte ich auf ein moralisches Prinzip hinweisen. Wenn wir annehmen können, daß ein Mensch keine Überlebenschance hat und aufgrund nicht zu lindernder, qualvoller Schmerzen selbst kein Interesse daran haben kann, weiterzuleben, sollte meiner Ansicht nach sein Leben nicht erhalten werden. Er selbst würde ein „überwiegendes Sterbeinteresse“ äußern, wenn er das könnte. Ich möchte einen auf den ersten Blick etwas entfernter liegenden Fall schildern, der sich in einer südafrikanischen Großstadt ereignet hat. Ein Autofahrer geriet in einen schweren Unfall und war ausweglos in massiven Stahlblechteilen eingekeilt. Der Wagen brannte, die Umstehenden konnten nicht löschen. Der Mann brannte auch und schrie. Nach mehreren Minuten zog einer der hilflosen Helfer eine Pistole und erschoß den Mann, der unrettbar verloren war und noch fünf bis zehn Minuten lang qualvoll verbrannt wäre. Das ist aktive Sterbehilfe oder, wenn man so will, aktive Tötung, die ich in einem solchen Extremfall für zulässig halte. Darauf zu hoffen, daß sich in den nächsten fünf Minuten ein Wunder ereignet hätte, halte ich für unmoralisch, ja sogar zynisch. Solche Fälle gibt es in analoger Struktur auf unseren Intensiv- und Kinderstationen. Es gibt Erkrankungen, die für Neugeborene absolut tödlich sind. Die Kinder können einige Zeit am Leben bleiben, ihre Krankheit und die Intensivbehandlung fügen ihnen in dieser Zeit aber schwerstes Leid zu.

Nennen Sie ein Beispiel.

Die sogenannte Epidermolysis Bullosa Atrophicans. Es gibt 26 Varianten der Krankheit, zwei sind absolut tödlich, eine davon wird als Typ „Herlitz“ bezeichnet. Das Kind kommt zur Welt, die Haut hält sich nicht am Körper, bildet Blasen und löst sich ab. Nach wenigen Tagen ist es in einem Zustand, als hätte es Verbrennungen dritten Grades. Die Schmerzen können mit Schmerzmitteln nicht vollständig bekämpft werden, es sei denn mit einer Überdosis Morphium, die das Kind töten würde. Die Verbände müssen mehrfach täglich gewechselt und es muß in medizinischen Lösungen gebadet werden. Eine Quälerei. Zumeist stirbt das Kind nach wenigen Tagen, in einem Fall allerdings dauerte es zwei Wochen, bis das Kind jämmerlich zugrunde ging. Ich würde ausgehend von meinem ethischen Prinzip sagen, es ist im überwiegenden Interesse solch eines Kindes, möglichst schnell zu sterben, auch wenn es das nicht artikulieren kann. Das gilt aber nur für solch extreme Fälle.

Wie wollen Sie dieses „überwiegende Sterbeinteresse“ feststellen?

Empirisch ist das nicht zu ermitteln. Das Kind sagt es uns nicht, wir selbst haben aber gar keine andere Möglichkeit, als zu sagen: Es kann nicht im Interesse des Kindes sein, zwei Wochen lang qualvoll zu sterben und von seinem Leben nichts außer Qualen zu haben.

Müßte es für solche Fälle gesetzliche Neuregelungen geben?

Das Strafgesetzbuch in der jetzigen Form reicht vollständig aus. Das aktive und passive Beenden von Leben steht grundsätzlich unter Strafe, es gibt aber Ausnahmenormen. Die eine ist die Notwehr, die andere der Notstand. Die weit überwiegende Mehrzahl der Strafrechtler würde heute noch nicht zustimmen, wenn man vorschlägt, die Notstandsregelung auf solche Fälle anzuwenden. Ich habe den Verdacht, das ist so, weil sie die realen Probleme in den Kliniken nicht zur Kenntnis nehmen.

In welchem Fall kann nach Ihrer Prämisse keine eindeutige Entscheidung gefällt werden?

Einen habe ich kürzlich in einer Hamburger Klinik erlebt. Ein acht Monate alter Junge hat eine genetisch bedingte, unheilbare Krankheit, eine zentronukleäre Muskelmyopathie. Auch hier gibt es verschiedene Varianten, die schwerste ist x-chromosonal vererbt und kann nur männliche Kinder treffen. Das heißt, der betroffene Junge leidet an einer vollständigen Lähmung der gesamten Körpermuskulatur, konnte nach der Geburt nicht atmen, muß seither beatmet werden, entwickelt sich geistig aber normal. In der Regel sterben solche Kinder im ersten Lebensjahr, es gibt derzeit aber zwei Fälle in Nordrhein-Westfalen, die länger als zehn Jahre überleben und ihre Lage bewußt erleben. Im Leben dieser Kinder gibt es gewiß Empfindungen von Freude und Leid, ich halte ihre Situation aber für furchtbar. Im Alter von zwölf Jahren ist die Entscheidung, den Jungen im Fall einer Komplikation sterben zu lassen, wesentlich gravierender, als wenn man beim Neugeborenen im Falle eines Kreislaufstillstands gesagt hätte, wir führen keine Wiederbelebung durch.

Was ist die Konsequenz?

Da ist, wie gesagt, die Grenze einer klaren Determination von Entscheidung erreicht. Wenn allerdings ein Arzt sagen würde, bei der nächsten Lungenentzündung interveniere ich nicht mehr mit Antibiotika, damit der Junge sterben kann, würde wahrscheinlich niemand von uns den Arzt für einen Schwerverbrecher halten. Trotzdem erfüllt sein Nichthandeln den Straftatbestand des Totschlags.

Was bedeutet das für die gesellschaftliche Diskussion?

Neben der grundsätzlichen ethischen Fragestellung, wann man bestimmte Menschen sterben lassen darf, muß es zu einer Klärung kommen, wie der Entscheidungsprozeß im konkreten Fall aussehen sollte. Wir sollten die Entscheidung von den Schultern eines einzigen Arztes nehmen. Ich plädiere für Ethikkommissionen, wie es sie in Amerika gibt, mit unterschiedlichem medizinischem und ethischem Sachverstand in den einzelnen Krankenhäusern.

Die grundsätzliche ethische Fragestellung, in welchen Fällen zweifelsfrei entschieden werden kann, löst Peter Singer mit einer Grenzziehung. Er sagt, bis zum ersten Monat nach der Geburt hat ein Säugling kein subjektives Lebensinteresse. Es ist also gar keine Frage, ob man ihn sterben lassen oder sogar töten darf, da es sich noch gar nicht um eine Person handelt. Was sagen Sie dazu?

Zuerst muß ich sagen, daß das „Lebensinteresse“ in der modernen Ethik tatsächlich die entscheidende Kategorie dafür ist, daß der Mensch ein Lebensrecht hat. Der Begriff des „Interesses“ ist dafür verantwortlich, daß wir per Tierschutz bestimmte Tiere schützen, von denen wir zum Beispiel annehmen, daß sie Schmerz empfinden können, während wir das Lebensrecht von Pflanzen und Regenwürmern nicht schützen. Ein anderes Beispiel: Warum gestehen wir Hirntoten nicht das Recht zu, weiter am Leben erhalten zu werden? Doch nur, weil wir zweifelsfrei zu wissen meinen, daß sie kein Lebensinteresse mehr haben. Peter Singers Postulat im Hinblick auf Neugeborene allerdings widerspreche ich entschieden. Die Sicherheit, daß Neugeborene dieses subjektive Lebensinteresse nicht haben, gibt es meiner Ansicht nach nicht. Wir gehen heute ja von einer pränatalen Psychologie und sehr subtilen Verarbeitungsmodi von Außenweltreizen bei Embryonen aus, die durchaus als Lebensinteresse interpretiert werden können. Ganz abgesehen davon leben wir in einer Gesellschaft, deren normative Textur zwingend erfordert, daß wir Neugeborenen ein Lebensrecht zuschreiben, egal ob sie ein subjektives Lebensinteresse äußern können oder nicht. Anders ausgedrückt: Das ist eine der fun

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damentalsten ethischen Fragen, und sie kann nicht zweifelsfrei beantwortet werden. Also muß man die Debatte abschneiden, normativ entscheiden und sagen: Ihr seid aufgenommen in die Gemeinschaft der von Moral und Recht Geschützten.

Wenn ich Sie richtig verstehe, kann man diese Grenze nicht bei der Geburt ziehen. Wo denn?

Sie muß meiner Ansicht nach auf jeden Fall einige Zeit vor die Geburt gelegt werden. Man muß aber sehen, daß man, je nachdem wo diese Grenze gezogen wird, in der heutigen Abtreibungspraxis vor neue Probleme gestellt wird.

Meinen Sie damit bestimmte Fälle, die durch das neue Abtreibungsrecht auftreten?

Wir haben inzwischen die Freigabe der Abtreibung nach Beratung bis zum dritten Monat. Danach tritt die Indikation in Kraft, die besagt, daß das Lebensrecht des Ungeborenen anerkannt, aber unter den Vorbehalt überwiegender anderer Interessen gestellt wird. Das Entscheidende dabei ist die medizinische Indikation, die besagt: Wenn die Weiterentwicklung des Fötus im Uterus mit dem Lebensrecht der Mutter kollidiert, dann gewichten wir das Lebensrecht der Mutter stärker. In der Praxis liegen die Fälle einer Lebensgefahr für die Mutter bei etwa fünf Prozent. In 95 Prozent der Fälle geht es darum, daß das psychische Wohlbefinden der Mutter im Vordergrund steht. Es ist in der Regel deshalb ernsthaft bedroht, weil man feststellt, daß das Kind schwer geschädigt ist. Man fällt eine Entscheidung zugunsten der Lebensqualität der Mutter und gegen das Leben des Kindes. Eine höchst problematische Entscheidung, deren Konsequenz erst dann ganz deutlich wird, wenn man sieht, daß bei sehr späten Abtreibungen um die 25. Woche die Kinder zwar abgetrieben werden, ein gewisser Prozentsatz aber lebend auf die Welt kommt.

Wie häufig geschieht das?

Laut einer amerikanischen Studie liegt die Zahl der lebend geborenen Kinder bei Abtreibungen bis zur 24. Woche bei 71,5 Prozent, danach steigt sie sprunghaft. Geht man bei bis zu 200.000 Abtreibungen pro Jahr in Deutschland von nur einem Prozent späten Abtreibungen aus, ist man bei 2.000. Und selbst wenn man dabei nur von 10 bis 20 Prozent Lebendgeburten ausgeht, gibt es mehrere hundert pro Jahr.

Was passiert in diesen Fällen?

Zuerst wird eine Intensivbehandlung mit lebenserhaltenden Maßnahmen versucht, dann sieht man vorsichtig, ob das Kind vital anspricht. Wenn nicht, läßt man es sterben. Um es ganz deutlich zu machen: Die Abtreibung wurde eingeleitet, weil das Kind geschädigt ist; durch die künstlich eingeleitete Frühgeburt hat das Kind noch einmal schwere Schädigungen, wie zum Beispiel Hirnblutungen. Häufig hat es keine voll ausgebildeten Lungen und muß künstlich beatmet werden. Für die Mutter tritt der paradoxe Fall ein, daß sie zwar ein staatlich anerkanntes Recht auf Abtreibung hatte, darauf beruhend, daß ihr das Kind „nicht zumutbar“ ist, wie die gesetzliche Formulierung lautet. Nun aber, da das Kind da ist, sagt die Rechtsordnung: Vor einer Stunde war es dir, falls es zur Welt gekommen wäre, nicht zumutbar. Jetzt, da es da ist, muten wir es dir zu. Das ist eine paradoxe Ethik und rechtliche Regelung.

Heißt das, der Paragraph 218a müßte noch einmal geändert werden? Oder müßte in solchen Fällen sichergestellt werden, daß es nach der Geburt zu einem Akt aktiver Sterbehilfe kommen kann?

Das Problem ist derart akut, daß die zweite Möglichkeit der Sterbehilfe und die damit zusammenhängende rechtliche Regelung bereits von einzelnen Ärzten gefordert wird. Ein renommierter Münchner Pränatal-Diagnostiker hat im Fernsehen gesagt: „Jetzt, da der Gesetzgeber uns diese späten Abtreibungen zumutet, muß er das Problem der Früheuthanasie regeln.“ Die dritte Möglichkeit: Man kann sicherstellen, daß das Kind tot zur Welt kommt, indem man es vor der Einleitung der Abtreibungshandlung mit einer gezielten Herzspritze im Uterus abtötet. Deutsche Ärzte wollen das in der Regel nicht, weil sie es zu Recht für moralische Augenwischerei halten, daß in diesem Fall die aktive Tötung außerhalb des Uterus ein schweres Verbrechen sein soll, die desselben Kindes wenige Stunden früher aber nicht, weil es noch im Uterus ist. Da ist in mehrfacher Hinsicht ein rechtsfreier Raum entstanden. Frauen etwa, die vom Arzt nicht auf die Möglichkeit der gezielten Herzspritze aufmerksam gemacht werden, könnten den Arzt vor Gericht bringen, wenn ihnen ein lebend geborenes und doppelt geschädigtes Kind „zugemutet“ wird. Ein Arzt muß die Abtreibung nicht vornehmen. Nimmt er sie vor, muß er die Frau auf alle Möglichkeiten aufmerksam machen, da er ansonsten unter Umständen haftet. Eine andere Konsequenz könnte darin bestehen, daß Frauen künftig nur Ärzte aufsuchen, die das Kind vorher abtöten. Das ist ein moralisches Problem, das die Gesellschaft behandeln muß, das bisher aber in keiner einzigen öffentlichen Diskussion angesprochen wurde. Wir haben für alle diese Fälle zwar juristische Normen, sie reichen in den Extremsituationen aber nicht aus. Der medizinische Fortschritt hat Grenzsituationen geschaffen, in denen unsere moralischen und rechtlichen Prinzipien keine sicheren Ergebnisse liefern können. Deswegen müssen wir eine „Ethik der Unsicherheit“ entwickeln, in der Entscheidungen über Leben und Tod nicht mehr auf den Schultern einzelner liegen, sondern in vernünftigen und transparenten Verfahren auf mehrere verteilt werden. Interview: Jürgen Berger

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