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Sibirien und sowjetische Glühbirnen

Sammeln, sichten und auf Touristen hoffen: Drei Jahre nach dem „großen Abflug“ der GUS-Truppen richtet sich das brandenburgische Landstädtchen Welzow eine Miniaturkaserne ein  ■ Aus Welzow Detlef Krell

Sibirien? Ein pausbäckiger, vielleicht dreizehnjähriger Junge löst sich von seinem Beobachtungsplatz am Gartenzaun und weist mit lässiger Handbewegung den Pfad: „Zwischen den Häusern lang. Dann, nach der Umleitung, durch den Wald.“

Der Waldweg ist schlammig. Er führt auf eine Lichtung. Dort liegt eine symmetrisch aufgebaute Siedlung: Zwei dreistöckige Häuser mit Dreieckgiebeln und Gauben, dahinter der Wäscheplatz. Diesen Hof umrahmt eine Galerie grün und blau angestrichener Schuppentüren. Ein gemauerter Rundbogen führt hinaus in die Gärten. Still ist es hier, keine Menschen. Sibirien.

Manche Gärten scheinen längst verlassen, andere frisch bestellt; und im hintersten Winkel, am Saum des schütteren Kiefernwäldchens, gräbt Fred Behley. In Sibirien ist er zu Hause, seit 1961. Damals bekam er hier, jung verheiratet, mit seiner Frau eine Wohnung. Die kleine Werksiedlung war zunächst für Kohlekumpel errichtet worden, vor rund hundert Jahren. Bald wird sie der Braunkohle wegen wieder abgerissen werden; hinter dem Wald warten die Bagger. Die Siedlung Sibirien liegt im Süden Brandenburgs, Ortsteil des backsteinernen Landstädtchens Welzow. „Diesen Namen hat sie bekommen, weil sie so weit draußen lag. Da wollte niemand wohnen.“ In der DDR offiziell nicht gelitten, ist er inzwischen in die Landkarten zurückgekehrt.

Behley, der Sibirier, wischt sich den Schweiß ab und berichtet aus seiner Kindheit „mit den Russen“. Zwölf war er, als die Sowjetarmee 1950 den nahegelegenen Flugplatz bezog. Welzow hat einen guten Namen bei Piloten: „330 Tage im Jahr nebelfrei!“ Seine ersten Nutzer waren friedliche Segelflieger, die legten sich 1925 eine Graspiste an. Zehn Jahre darauf kam die Wehrmacht; von Welzow aus wurde die Luftraumverteidigung Berlins und Dresdens geflogen.

Behley ist am Flugplatz aufgewachsen. „Ich war öfter dort als zu Hause. Bei den Russen gab es immer was zu essen.“ Zwar bekam er von dem einen oder anderen Sowjetsoldaten die Suppe über den Kopf gekippt, nur zum Spaß, „aber die meisten waren freundlich“. Später entdeckte der Junge, Ältester von neun Geschwistern, die Kaserne als ergiebigen Markt: „Ich war der Schnapslieferant. Die kannten mich alle.“ So verdiente er, dem 1947 der Vater gestorben war, seiner Familie etwas hinzu. Und mit der Zeit fand er auch Kumpels bei den Jagdfliegern. Seitdem er in Sibirien wohnte, besuchte Fred Behley seltener die Kaserne. „Am 1. Mai oder am Befreiungstag, da war ja sozusagen Deutsch-Sowjetische Freundschaft, und da habe ich immer versucht, mein Russisch aufzufrischen.“ Zeit zum Plausch beim Schnaps; Behley, der Kesselschmied und „die Freunde“ vom Flugplatz zwischen Welzow und Sibirien.

Am 15. Juni 1993 haben die Jagdbomber ihre Garnisonsstadt Welzow verlassen. „Großer Abflug“ wurde gefeiert. Erstmals wieder durften die Welzower „offiziell“ auf den nebelfreien Platz. Behley ist nicht hingegangen. „Ich kannte das doch alles.“ Heute nun sammelt die Stadt Andenken an ihre abgeflogenen Nachbarn. Zum Tag der Befreiung in der letzten Woche wurde eine Ausstellung in einer Fünfziger-Jahre-Villa im Stadtzentrum eröffnet, die an die knapp fünfzig Jahre erinnern soll, als „Rußland“ gleich nebenan war. 8.000 Soldaten lebten hinter den Mauern in den Kasernen, mehr als Einheimische in Welzow, einem Ort mit 7.000 Einwohnern.

„Das war eine sehr schöne Zeit, das können Sie ruhig schreiben!“ Manfred Starke stochert mit der Bohrmaschine im bröckligen Deckenputz. Er steht, den Kopf im Nacken, auf einem ausgedienten Posttresen. Starke, ein Mann um die Sechzig in blauer Latzhose, befestigt die Fassung für die Deckenleuchte. Tresen und Lampe sind Originale aus der Fliegerkaserne. „Ich hab' noch hundert sowjetische Glühbirnen liegen, auf dem Sportplatz.“ Als Platzwart und Fußballer besorgte er die „sportlichen Beziehungen“ zwischen Welzow und der Garnison. „Wir haben auch feuerwehrmäßig zusammengearbeitet.“ Bis heute sehe er diese Bilder vor sich: „Wie wir uns im Parteigebäude umgezogen haben zum Spiel. Und die Bonzen haben gefeiert.“

Starke klettert herunter vom Tresen. Die Lampe leuchtet. Bevor er sich einer schrankwandgroßen Papptafel zuwendet, dem Lageplan der Kaserne, gibt er gelassen zu: „Die Ausstellung ist mir scheißegal. Die sollen sie dort machen, wo man die Freunde nicht kennengelernt hat. Wir hier wissen noch, wie es war.“ Was Starke nicht sagt, ist, daß die sowjetischen Militärs ihren Soldaten informelle oder freundschaftliche Kontakte zu den deutschen Nachbarn schlichtweg verboten hatten.

Den drei Frauen, die Starke geholfen haben, die Lampe aufzuhängen, ist die Ausstellung nicht egal: Sie verdienen ihr Geld mit der Einrichtung der sowjetischen Minikaserne. Bei der Gesellschaft für Arbeitsförderung in Cottbus haben sie diesen Job als ABM bekommen. Befristet bis 31. Mai. Die Frauen sind ängstlich. Sie dürfen über ihre Arbeit nur mit Genehmigung der Firma sprechen. Also radelt Frau P. zum Telefon, die Chefin zu konsultieren: Keine Auskunft. Jetzt verraten die ABM-Kräfte nicht einmal mehr ihre Namen.

Seit vergangenem Jahr durchstreifen sie das Flugplatzgelände, das mit 630 Hektar größer ist als ihre Stadt. Manche Gebäude waren buchstäblich leergefegt, andere wiederum, so die Kommandantur, sahen aus, als ob sie in Eile verlassen worden wären. Dort wurden die Frauen fündig: Feldbetten und Schutzmasken, Uniformen und Lehrtafeln, die quittegelben Briefkästen und einen Panzerschrank brachten sie in die Ausstellungsräume.

Nun müssen noch die russischen Texte übersetzt werden. Zum „Schutz der Kinder vor Massenvernichtungsmitteln“ bebildert eine Unterweisungstafel makabere Szenen: Die Großfamilie sitzt um den Küchentisch. Giftalarm. Während die Kinder schon an ihren Schutzmasken nesteln, studiert Großvater noch die „Pamjatki“, die roteingebundenen „Erinnerungen“ eines Revolutionshelden. Später harren sie alle im Moskauer Metro- Schacht aus.

Sogar der typische aschfahle Farbanstrich sowjetischer Kasernen wurde in der einstigen Zahnarztwohnung dem Original nachempfunden. Es fehlt nur noch eine knackige Losung an der Fassade. Die Lausitzer Rundschau verteilt Lob: „Ohne den Haushalt zu belasten, kurbelt man kräftig, um aus dem Wenigen, was zur Verfügung steht, etwas für die Zukunft der Stadt zu machen – und sei's eine touristische Zukunft. Denn wer aufgibt, hat schon verloren.“

Diese Idee, „Fund- und Bruchstücke“ sowjetischen Kasernenalltags zu recyclen, hatte eine Frau: Kerstin Hellwig, die quirlige Sachgebietsleiterin für Kultur und Bildung. „Heimatforschung, Fremdenverkehr und Archivierung“ heißt das Projekt. Später einmal möchte sie die gesamte Geschichte des Flugplatzes darstellen, auch an „DDR-Geschichte“ würde sie sich heranwagen. Leider durchsuchten die ABM-Historikerinnen den Flugplatz vierzehn Tage zu spät – ein halbes Museum lag bereits auf der Deponie. Über hundert Leute waren zuvor in einer „Groß- ABM“ ordnungsheischend auf dem Gelände. Stück für Stück rücken nun private Souvenirjäger ihre Schätze wieder heraus. „Liebhaber“ wollen dafür viel Geld sehen, „aber solche Geschäfte kann sich die Stadt nicht leisten“.

Mit DDR-Nostalgie oder Gruselkabinett habe das nichts zu tun: „Diese sowjetische Garnison gehört nun einmal zu unserer Geschichte!“ Von den „Zivilisten“ in Welzow hätte kaum jemand hinter die Kasernenmauern schauen können. „Es sei denn heimlich oder über Beziehungen, zum Einkaufen im ,Magasin‘“, der Verkaufsstelle für die Offiziere und ihre Familien, „dort gab es immer was Besonderes.“ Heute bedauert sie nur, daß sie nicht früher auf diese Idee kam, als die Soldaten noch in Welzow waren. Die Garnison hätte wohl geholfen, die Ausstellung einzurichten: „Von Museum zu sprechen wäre hochtrabend“, sagt Kerstin Hellwig, „dafür haben wir nicht genügend Fundstücke.“

Doch damals, vor drei Jahren, hätten die Welzower noch „alle die Schnauze voll gehabt“ von der Kaserne, von den Tiefflügen und von der Kohle, der dominierenden Industrie in dieser Gegend. Diese Übel ist Welzow nun los. Geld und Arbeit auch.

Für ihre Zukunft setzt die kleine Stadt doch wieder auf den nebelfreien Flugplatz. Als Verkehrslandeplatz soll er Geschäftsleute und Gewerbe anlocken. Wo einst die Offiziersfamilien wohnten, entsteht eine Siedlung mit Sozial- und Eigentumswohnungen. Die Sowjet-Ausstellung werde vielleicht Touristenziel. Zwei Rheinländer waren schon da, am Tag der Eröffnung. Tourismus in Welzow könne sich Kerstin Hellwig gut vorstellen, für Schulklassen, für „sozial Schwache“.

Eigentlich wollte sie einen „Russki-Park“. Auf dem Flugplatz, am Originalschauplatz. Für Touristen. Die wären dann, vielleicht nach einer Tagebaurundfahrt durch das Lausitzer Kohlerevier, mit ihren Reisebussen vorgefahren. Und dann hätten sie übernachtet in dieser Kaserne, nach einem Begrüßungswodka, zu hundert im Schlafsaal. Das wäre doch mal was gewesen. Abenteuertourismus! Kerstin Hellwig: „Wenn die Leute so verrückt sind, in Bayern Urlaub auf dem Heuboden zu machen, dann können sie auch zu uns auf den Flugplatz kommen.“

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