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"Was ist der Sinn?"

■ Eine polnische Favoritin, eine Malteserin in Kleidernot, und wo ist die Showtreppe? Der Grand Prix d'Eurovision in Oslo

Die junge Frau, die da tief in den Polstern der Sitzgruppe im Osloer Konzerthaus „Sentrum“ sitzt, wirkt fahl im Gesicht. In der linken Hand hält sie ein Papiertaschentuch. Wird sie gleich weinen? Gott sei Dank stehen ihr zwei Männer bei, denen sie ihr Herz ausschütten kann: „Nein, ein kleines Blaues würde ihr gut stehen“, sagt der eine. Der andere meint, daß ein schlichtes Abendkleid „bis zum Knie“ für den Zweck ausreicht. Die Frau lächelt jetzt ein bißchen. Es gibt Menschen, die sie verstehen: Sie gehört zur Delegation Maltas, zum Stab der Sängerin Miriam Christine, die bei den Proben zum Grand Prix d'Eurovision ein ihre Pummeligkeit unterstreichendes Blümchenkleid trug.

„Nein, so ging das wirklich nicht“, teilt der Helfer, Mitglied des deutschen Grand-Prix-Fanklubs „OGAE Allemagne“, der Malteserin mit, „was sollen wir denn von eurem Land denken – als eines, in dem schon Putzfrauen zum Song Contest verpflichtet werden müssen?“ Allen wird geholfen, hier beim Europäischen Schlagerwettbewerb, der in diesem Jahr sich ein weiteres großes Stück entfernt vom einstigen Anspruch, Textern und Komponisten ein Forum für die leichte Muse zu sein. Dominiert wird die 41. Auflage des Wettbewerbs von einer Art Musik, die man als Euroethno bezeichnen kann: Die slawischen Länder lassen im metallischen Timbre singen, hoch und immer höher; Länder wie Norwegen und Schweden servieren getragene Kost aus dem, was bei uns leicht als Folklore abgetan wird.

Die norwegische Hauptstadt spielt verrückt für dieses Ereignis. Keine Kneipe, in der nicht die musikalische Kost gewogen wird: „Aber wir vermissen Deutschland“, sagt einer am Tresen. Warum? „Weil ich Joy Fleming liebe.“ Die Mannheimerin genießt unter Eurovisionsfreunden Kultstatus, wurde 1975 doch ihr Song „Ein Lied kann eine Brücke sein“ in den Keller gewertet.

Eine Woche lang sind in Oslo alle irgendwie Juroren. Überall wird gewettet, gewertet, gefachsimpelt und abgeurteilt: Nach einer Umfrage des Blattes VG findet Norwegen Abbas „Waterloo“ (1974) den besten Grand-Prix-Siegertitel aller Zeiten. Nicoles „Ein bißchen Frieden“ landet bei diesem Spiel auf dem dritten Rang.

Seit gestern steht fest, daß der Wettbewerb auch in den kommenden Jahren veranstaltet wird. „Kein anderes Stück Fernsehen verbindet alle europäischen Länder so sehr“, heißt es aus der Eurovisionszentrale in Genf. Das norwegische Fernsehen NRK würde sich jedoch freuen, wenn Elisabeh Andreassen nicht gewinnen würde: „Der Streß seit vier Monaten ist kaum auszuhalten“, sagt der Sprecher des Senders. Stolz verweist er auf die acht Tonnen Aluminium-Deko im „Sentrum“, auf die 720 Scheinwerfer und die 1.200 Quadratmeter große Bühne.

Mit der Bühne allerdings sind die 600 Männer aus 14 europäischen Grand-Prix-Fanklubs nicht einverstanden: Es fehlt die Showtreppe. Alle Sänger kommen aus dem Hintergrund, als seien sie gleich mit dem Publikum oder dem Orchester. Zudem wirkt die Aluminiumkonstruktion, die Norwegens Verbundenheit mit der Industrie andeuten soll, am Ende wie eine Baustelle.

6.000 Menschen werden heute abend direkt dabeisein. Die Karten dafür sind ebenso wie die für die beiden Generalproben seit Monaten ausverkauft. Selbst auf dem Schwarzmarkt gibt es nichts mehr zu holen: Ein „Spectrum“- Ticket für diesen Abend gilt als eherne Trophäe, die keinesfalls schnöde verkauft werden darf.

Nach vier Tagen mit insgesamt 36 Stunden Probeaufzügen sind die Favoriten eindeutig: Schweden sowieso. „Den vilda“, eine Art Enya-Reverenz mit Nanne Grönvall und Maria Radsten als Sängerinnen, hat bereits die Vorausscheidung gewonnen, bei der bekanntlich Deutschlands Vertreter Leon mit seinem „Blauen Satelliten“ auf der Strecke blieb. Komponiert wurde das Lied von Peter Grönvall, Sproß Benny Anderssons – eines der beiden Abba- Männer. Und so klingt das Lied feierlich und schön wie ein Abba- Song. Die Schweden starten als letzte der 23 Teilnehmer.

Die Fans, die in Oslo weilen, mögen am liebsten jedoch die Polin Kasia Kowalska. Ihr Beitrag heißt „Chce znac swoj grzech“ und bedeutet „Was ist der Sinn?“ – eine Frage, so die zweimalige Grammy- Gewinnerin ihres Landes, „die sich nicht auf die Liebe zwischen Mann und Frau bezieht, sondern auf den Sinn des Lebens“. Das Auditorium war bei den Proben begeistert: So authentisch ringt sonst niemand beim Wettbewerb. Selbst ihre hohen Töne sitzen und müssen vom Tonmeister nicht im Sound versteckt werden. Unter den Favoriten befindet sich die Australierin Gina G, die für das Vereinigte Königreich an den Start geht mit „Just a little bit“: Werden die europäischen Juroren soviel nervöse Hampelei auf der Bühne mögen?

Maltas Sängerin in Kleidernot war gestern kaum zu halten. Sie wußte nicht, daß ein Nationalfeiertag sie darin hindert, Boutiquen zu durchstöbern. Heute vormittag wollen die beiden Helfer aus dem „Sentrum“ mit ihr gemeinsam auf die Suche gehen: „Das ist das einzige, was wir für sie noch tun können.“ Aus Oslo: Jan Feddersen

Der Grand Prix wird live nur von den ARD-Dritten gezeigt: ab 21.00 Uhr bei NDR3 und WDR3; die ARD zeigt um 0.35 Uhr eine Aufzeichnung

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