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Heute abend ist Siegerehrung in Cannes. Die 49. Filmfestspiele in der südfranzösischen Stadt boten Durchschnittliches auf hohem Niveau. Aufgemerkt und richtig debattiert wurde nur bei zwei Filmen: bei David Cronenbergs „Crash“ und Lars von Triers „Breaking The Waves“ Aus Cannes Mariam Niroumand

Traumfabrik Alltag

Eine Stadt räumt auf. Während die letzten Filmvorführungen der 49. Festspiele in Cannes zu Ende gehen, kehren die Straßenfeger die Reste der Partys zusammen, fallen die Preise wieder auf Normalniveau, entspannen sich die Friseure. Die alten Damen, die sich aus Paris hierher auf ihren Alterssitz zurückgezogen haben, kämmen ihre Chow-Chows und machen sich zu kleinen Schwätzchen an der Straßenecke auf. Der große schwimmende Puff, der dieses Jahr erstmalig vor der Küste angelegt hatte, legt ab.

Unter den Journalisten, die noch hier sind, herrscht eine gewisse Katerstimmung. Die Sache hatte auf dem Programm deutlich besser ausgesehen als dann später auf der Leinwand. Namen wie Robert Altman, Al Pacino, Steven Frears, Chen Kaige, David Cronenberg, Joel und Ethan Coen, Bernardo Bertolucci oder Michael Cimino hatten auf ein Festbankett hoffen lassen – am Ende kam ein Bonbonregen dabei heraus.

Eine gewisse Süßlichkeit, Harmlosigkeit und ästhetische Verkleisterung waren gepaart mit Momenten unfreiwilliger Komik, die immer dann entstehen, wenn etwas an sich Banales zu tragischer Form aufgeblasen wird. Da erscheint es im nachhinein geradezu prophetisch, daß der Eröffnungsfilm „Ridicule“ hieß, Patrice Lecontes Kostümfilm über Lächerlichkeit, Esprit und Spott bei Hofe. Beispiel Bertolucci: Obwohl sein neuester Film „Stealing Beauty“ – die Geschichte einer 19jährigen Amerikanerin, die in der Toscana ihren sexuellen Urknall erleben will – großzügig mit Vorschußlorbeeren überhäuft worden war, wurde er in der ersten Pressevorführung ausgelacht. Die Handies in den Olivenhainen, die leidenschaftlich dreinblickenden Nacktbader mit ihrer Kurzpoesie und ihren erschütternden Tonarbeiten waren auch wirklich bestenfalls noch lustig.

Chen Kaige, der in Cannes mit einer Saga über die chinesische Oper reüssiert hatte, präsentierte dieses Jahr mit „Temptress Moon“ höchstens noch eine Operette der blitzblank polierten Vollmondscheiben, die in tiefblauen chinesischen Himmeln über einer Dreiecksgeschichte hängen, deren Verlauf offenbar weder den Regisseur selbst noch seine schöne Protagonistin Gong Li interessierten.

„Normale Leute haben nichts Besonderes“ hieß ein etwas sperriger Film in der Retrospektive, die diesmal nicht einem Regisseur, sondern dem französischen Kino insgesamt gewidmet war. Dahinter verbirgt sich, was in diesem Jahr ein auffällig durchgängiges Thema war: Wie filmt man diejenigen, aus denen sich das Gros der Kinobesucher zusammensetzt, wie filmt man „einfache Leute“, die unteren Kasten, den Alltag?

Der Trend hat eine gewisse Logik. Für das amerikanische Kino – wo es dafür seit Frank Capra eine gewisse Tradition gibt – ist es eine sinnvolle Antwort auf die enorm hochgeschnellten Produktionskosten. Das europäische Kino dagegen bedient seine klassischen sozialromantischen Anliegen. Beide fuchteln gewissermaßen mit den Armen: „Dies könnte in Ihrer Nähe passiert sein“ – dabei genau wissend, je einfacher der dargestellte Alltag, desto gehobener das Publikum.

Filmkrieg zwischen USA und Frankreich tobt weiter

Mike Leigh, aus der Tradition des linken „New British Cinema“ und seiner verfilmten Literatur der Arbeitswelt kommend, erzählt in „Secrets and Lies“, wie eine schwarze Augenärztin nach dem Tod ihrer Adoptivmutter ihre biologische Mutter sucht und dabei auf ein wimmerndes, weißes Wrack in einer Londoner Vorstadt stößt. Biologische Nähe, soziale und ethnische Distanz – leider reicht Mike Leigh diese Spannung nicht, und er versucht, die Milieustudie zum griechischen Drama zu strecken. Ridicule!

Robert Altman, dessen Mißtrauen gegen alle großen Abteilungen der Populärmusik, Mode oder Hollywood selbst ja bekannt ist, hat sich mit „Kansas City“ der eigenen Nachbarschaft zugewandt. Daß ein kunstregenbeträufeltes Heimatmuseum daraus geworden ist, dessen Wachsfiguren (etwa das Personal einer Dreigroschenoper) einen nicht interessieren, liegt auch hier daran, daß die Idee mächtiger war als die Erzählung: die Idee vom Narrenschiff, auf dem wir uns alle vergebens spreizen.

Aki Kaurismäki dagegen verliert kein überflüssiges Wort, um seine finnische Oberkellnerin und ihren Busfahrer-Mann vorzustellen. „Au loin s'en vont les nuages“ werden die beiden arbeitslos, und eine lange, quälende Zeit sieht man en detail, was das für ihre Selbstachtung und ihr Alltagsleben bedeutet. Diese Detailtreue ist es, die Kaurismäkis von Altmans Milieustudien unterscheidet. Sie geht immer dann verloren, wenn die Idee über das filmische Material hinausragt. Auf dem Presseheft ist der schlanke, kluge Hund abgebildet, den die beiden während der ganzen Zeit nicht aufgeben und der dann stolz auf das beglückende Ende dieses in wunderschönem Altrosa gefilmten Märchens blickt.

Einfache, aber große Männer und Frauen der Résistance sind geradezu Ikonen des französischen Kinos. Einen von ihnen als Sprößling einer Kollaborateursfamilie, einen Schwindler darzustellen, der für die Konstruktion seiner Biographie keine Überzeugung, sondern nur die Stationen der Londoner Metro auswendig zu lernen braucht, das grenzt für Teile der französischen Presse an bösartigen Dekonstruktivismus.

Detailtreue unterscheidet Kaurismäkis Milieustudien

In Zusammenhang mit Jacques Audiards Komödie „Un héros très discrète“ wurde der Name Mitterrand zwar nur im Nouvel Observateur ins Spiel gebracht, aber er löste auch bei linken Tageszeitungen wie der Libération eine erstaunliche Wut aus. „Es handelt sich hier nicht um einen historischen Film“, schrieb Le Monde verärgert, „sondern vor allem um einen Film über das Spektakel, ein Plädoyer für ein bestimmtes Kino: Es lebe das Künstliche, nieder mit einem Kino, das sich der Realität stellt.“

Mit erschreckender Verve werden die sehr geschickten, zum Teil am Musikvideo geschulten filmischen Darstellungsweisen des Betrugs gegeißelt. Beispielsweise sieht man den Protagonisten als Jugendlichen im Schnellauf gymnastische Übungen durchführen, so daß er schließlich aussieht wie da Vincis Mann im Kreis, mit einem unermeßlichen Arsenal von Posen. Als wäre das nicht gerade der Witz am Kino! Ridicule!

Der Filmkrieg Frankreich– USA tobt weiter; das heißt, die Franzosen führen Krieg, und die Amerikaner machen weiter Filme. Pamphlete kursierten in Cannes, in denen die Filmgeschichte neu erzählt wird. Der Film sei in Frankreich erfunden worden, und Edison habe alles getan, diese Erfindung aus den USA fernzuhalten. Es sei dann vor allem vor Immigranten gespielt worden, die nicht lesen und schreiben konnten, aber also schon immer ein „Spektakel“ sein müssen. Schon Griffith habe dieses Publikum dann intellektuell überfordert.

Den einwandernden Regisseuren aus der Alten Welt habe Hollywood Aufstiegsmöglichkeiten nur um den Preis eröffnet, daß sie Europa vergessen. Da es eine Pioniergesellschaft gewesen sei, habe die Schauspielkunst im wesentlichen aus Imitation bestanden. Talentshows, Actor's-Studio, alles eine Schule. „Nehmen Sie James Stewart, Henry Fonda oder John Wayne: Am Anfang waren sie alle nichts, und nur durch Instinkt, Nachahmung, Narzißmus und Exhibitionismus wurde etwas aus ihnen“, schrieb Michel Cieutat in Télérama. Später dann habe das Kino zunächst den amerikanischen Isolationismus unterstützt. Ab 1945 dann den Kalten Krieg, Ordnung und Gesetz, aber auch Eskapismus. Kein Kino der Welt habe so vom Krieg profitiert wie das amerikanische, „dessen Botschafter Stallone und Schwarzenegger jetzt über die ganze Welt regieren.“

Antwort des Melodrams auf Indiana Jones

Der einzige Regisseur, der in diesem Manifest noch übrigbleibt, ist – ausgerechnet – Oliver Stone. So was wurde hier emsig verteilt und von allen, einschließlich Herrn Altman, unterschrieben, während bei den Friseuren, zu denen die Franzosen gehen, Fotos von Bruce Willis, Sharon Stone oder Robert De Niro stehen.

So richtig aufgemerkt und debattiert wurde hier eigentlich nur bei zwei Filmen: Lars von Triers „Breaking the Waves“ und David Cronenbergs „Crash“, beides Titel, die schon den Bruch mit dem sonst hier besungenen Alltag andeuten. Auch David Cronenberg hat sich an die Exploration eines Genres gemacht. „In den meisten Filmen sind Sexszenen eine Einlage“, hatte Cronenberg auf der Pressekonferenz erklärt. „Schnitte man sie heraus, würde dem Film nichts fehlen. Ich wollte sie diesmal zum tragenden Element machen.“

Bei Gott! Das behauptet auch der Pornofilm von sich, und so ist „Crash“ das Portrait einer Gruppe von Leuten, die Autounfälle sexuell stimulierend finden. Mit Godards „Weekend“ und Warhols Fotos und eben auch mit der Pornographie hat dieser Film das Serielle gemein. Man sieht die Akteure, die nur flüsternd miteinander reden, in einem dunklen, grauvioletten Toronto, in einer Endlosschleife von Kopulationen im Flackerlicht der Rettungswagen.

Zieht man die doofe Kulturkritik ab – die Reizschwelle des modernen Menschen liegt so hoch, daß nur Perversion noch einen Kitzel abwirft –, ähnelt Cronenbergs Ästhetik der des Malers Francis Bacon, bei dem die Menschen auch fatal mit den Gegenständen verschmelzen. Und war es nicht bei Buster Keaton auch schon so? Was die Malerei darf, muß das Kino auch dürfen: Zeige deine Narbe.

Der dänische Filmemacher Lars von Trier („Europa“, „The Kingdom“) hat in mehreren Kapiteln eine Passionsgeschichte von der rauhen Westküste Schottlands erzählt. Von Trier, der vor einiger Zeit zum Katholizismus konvertierte, wollte „die Antwort des Melodrams auf Indiana Jones drehen“. Im Gegensatz zu Quentin Tarantino empfindet er das Spiel mit Genres als unzulässigen Trick, der das Kino seiner Grundlagen beraubt. Melodram bleibt Melodram.

Wäre „Breaking the Waves“ nicht mit der leichten Handkamera und dem groben Dokumentarfilmraster gedreht und müßte man nicht soviel lachen und schwärmen, würde man ihn vielleicht mit Dryers Film über Jeanne d'Arc vergleichen. Es geht um Bess, ein frommes Calvinistenmädchen, das sich in den Ölarbeiter Jan verliebt, der in einem Segelflugzeug landet, um sie zu heiraten. Mit einer hohen, verzweifelten und einer tiefen, gestrengen Stimme spricht sie ihre Gebete: Er soll heimkommen von der Bohrinsel, egal wie. Als er dann querschnittsgelähmt vor ihr liegt, reut es sie, und sie opfert sich – auf seine Bitte, sich einen Liebhaber zu nehmen und ihm davon zu erzählen –, indem sie sich den schmuddeligsten und gefährlichsten Kerlen hinwirft.

Bis zum Schluß bleiben Stimmen der Vernunft hörbar, die einen einzig bei der Stange halten. Der Film verlangt allen alles ab, einschließlich dem Publikum, und funktioniert nur durch Überwältigung – gibt aber auch das äußerste dafür zurück. Wenn die Jury unter Vorsitz von Francis Ford Coppola Mut hat, prämiert sie Lars von Trier.

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