Das Ende der Erinnerer

■ Großartig: Wallace Shawns „Zum Trauern bestellt“ im Thalia Theater

Wenn nach dem Ende des Lebens nicht einfach alles schwarz ist, wie sieht der Ort dann aus, an dem man sich wiederfindet? Bühnenbildner Rolf Glittenberg hat einen abgewetzten, dunkelrot-samtigen Raum hinter das Nichts gestellt.

Hier treffen sie sich ein letztes Mal: Jack (Christoph Bantzer) und seine ehemals geliebte Judy (Elisabeth Schwarz), mitsamt ihrem Vater Howard (Fritz Lichtenhahn). Hier versieht Jack ihnen seinen letzten Dienst: seine Trauerarbeit, sein Abarbeiten der Erinnerungen, die keiner außer ihm mehr hat. So tue man das in fernen Kulturen.

Seiner Form nach ist Zum Trauern bestellt eher untheatralisch: eine Folge von an das Publikum gerichteten Monologen, die auch ein perfektes Hörspiel ergeben könnten. Doch da liegt die Stärke von Regisseur Niels-Peter Rudolph: Er hat die Erzähltexte in ein optisches Netzwerk aus Blicken, Gesten, Erwiderungen gestellt, die dem Gesagten eine zusätzliche Dimension verleihen. Bei ihm wird der sehr gut lesbare Text zum sehr gut sehbaren Stück, gerade, weil es nur Kleinigkeiten sind, die zwischen Papier und Bühne stehen. Die Kluft, der Kontrast zwischen Jacks anfangs heroisierenden Beschreibungen Howards und Howards weißer Präsenz auf der Bühne zum Beispiel, sein so müdes wie staunendes wie rüffelndes Gesicht hinter dicken Brillengläsern, das einen dauernden stummen Kommentar zu Jacks Äußerungen abgibt.

Wie maßgeschneidert sitzen die drei Akteure in ihren Rollen: Elisabeth Schwarz mit wacher Spitzheit, so kühl wie der Untergang ihrer Figur, Fritz Lichtenhahn zwischen der Bedrängnis des Alters, dem Witz schon seiner Anwesenheit und der berührenden Unfähigkeit des trottelig Reduzierten, und Christoph Bantzer als ängstlich sich aufreibender Witzereißer immer kurz vor dem Abgrund – und alle drei haben eine solche Präsenz, daß die Spannung nicht nachläßt.

Zwei Stunden lang bewegen sie sich zwischen Sofa, Sessel und Stuhl nur auf kleinstem Raum und durchmessen doch eine ganze Welt, so finster wie die Zukunft in so verfeinerten Visionen wie Ridley Scotts Blade Runner. Dessen Musik, und das ist sicher kein Zufall, weht manchmal momentweise und kaum wirklich hörbar als Fetzen durch den Klangraum Roland Steckels, der mit seinen unaufdringlichen Andeutungen auf ein größeres Außen ebenso überzeugt wie die Kostüme von Falk Bauer, die im fortschreitenden Abend nicht nur den Seelenzustand der sie Tragenden verdeutlichen, sondern auch den Zustand der Welt, in der sie sich nun nicht mehr bewegen müssen.

Wie seltsam, daß dieses kleine, im Schweben zwischen den Erinnerungsfetzen, den Dialogresten, den Einschüben, Ablenkungen und Umwegen tieftraurige Stück über einen diktatorischen Zustand der Unkultur der bisher größte Abend dieser Thalia-Spielzeit ist.

Thomas Plaichinger