Als wäre dies Wirkung ohne Ursache

■ Wo Sami und Kalim starben, an dem Bahnübergang in Sandbek, trauern noch immer ihre Freunde. Und glauben, daß niemand ihnen glaubt. Und daß das Gründe haben muß Von Stefanie Winter

Lebensraum in braune Quader gestanzt, Satellitenantennen, Parkplätze. Betreten des Rasens verboten, Fußballspielen erst recht. Auf ihrem Weg ins Altländer Blütenmeer lassen Ausflügler die Siedlung Sandbek links liegen – eingeklemmt zwischen Fischbek und Neu Wulmstorf, zwischen Mittelstand und besser. In Stadtplänen taucht Sandbek nicht ausdrücklich auf, in den Medien vorübergehend: Zwei Jugendliche sind hier in der vergangenen Woche gestorben. An einem Bahnübergang hatten sie mit einem Mofa die geschlossene Halbschranke umfahren, ein Zug zerriß sie.

Familien und Freunde trauern, und ein Teil ihrer Trauer, der wütend und zerstörerisch nach Verantwortlichen sucht, wird rasch als „Randale“ abgetan und verurteilt. „Aggression ist nicht die richtige Reaktion auf Verlust- und Trauergefühle“, hatte Innensenator Hartmuth Wrocklage am Wochenende – neben Bedauern über den tragischen Unglücksfall – verlauten lassen. Und: „Die Polizei wird weiteren Ausschreitungen mit aller Konsequenz entgegentreten.“ Als „Problemsiedlung“ wird Sandbek in diesen Tagen nicht nur von Polizeisprechern bezeichnet, als wäre dies Wirkung ohne Ursache.

Direkt am Bahndamm, dort, wo Sami und Kalim starben, haben Freunde ein Zeltdach über eine Trauerstätte gespannt, haben Blumen gebracht und Schilder gemalt, auf denen sie versprechen, die beiden nicht zu vergessen. Nur einmal habe die Polizei sie gebeten, das Zelt abzubauen, weil es das Andreaskreuz verdecke. Das Zelt ist geblieben, einige der Jungs übernachten auch dort. Bislang seien sie nicht aufgefordert worden, zu verschwinden. Und die Züge fahren im Schrittempo vorbei. Anders als sonst, beides.

Die Jungs, erzählt Samis Mutter, halten zusammen. Und sie könne sich durchaus vorstellen, daß allein dieser Zusammenhalt andere ängstigt und somit stört. Dann kommt noch der Lärm dazu, wenn sie irgendwo zwischen Müllcontainern an ihren Mofas rumschrauben. Es gibt keinen Platz in Sandbek, wo sie sein können, wie sie sind – oder sein wollen. Als das neue Freizeitheim geplant wurde, seien sie gefragt worden, was sie brauchen. Nicht ein einziger Vorschlag sei realisiert worden.

Es gebe dort einen Kicker, einen Billardtisch für 60 Leute und viel Streit darum, wer endlich dran ist. Ein Raum, in dem Karten gespielt werden könnten, sei fast immer abgeschlossen. Weil das Sofa, daß darin steht, irgendwann kaputt war. Und dafür niemand die Verantwortung übernehmen könne, soll einer der beiden Sozialarbeiter gesagt haben. Spätestens um zehn Uhr abends schließe das Freizeitheim, am Wochenende sei es völlig dicht. Sami hat sich immer „so etwas wie ein Hobby“ gesucht, sagt seine Mutter, die Mofas eben. Oder Angeln. In der Umgebung von Sandbek sei das allerdings verboten. „Naturschutzgebiet.“

Nur wenige Stunden nach dem Tod von Sami und Kalim fuhren die Züge wieder. Tage später noch fanden ihre Freunde auf den Schienen Blut, Haut und Knochen. „Wenn das ein Ölfleck gewesen wäre“, meint einer von ihnen, „hätten sie das sorgfältiger beseitigt.“ Zwei Kollegen, zwei Brüder seien gestorben, sagt er, und die Freunde seien tief verletzt. Wut und Zerstörung aber seien dadurch entstanden, daß ein Polizist sich gefreut habe darüber, daß es nun zwei von ihnen weniger gebe. Kurz vor dem Unfall, den er „die Sache“ nennt, sei eine Wohnung von der Polizei nach Waffen durchsucht worden. Hinter den Mofas seien die auch immer her gewesen. Und einer der Verunglückten trug keinen Helm.

In diesem Bereich, sagt Polizeisprecher Hartmut Kapp und meint Sandbek, seien soviele Gerüchte aufgetaucht, daß man gar nicht allen nachgehen könne. Für eine Verfolgung der beiden Jugendlichen durch andere gebe es keine erkennbaren Hinweise. „Das Problem bei diesen Leuten ist, daß es Gewaltexzesse gegeben hat, die einer Rechtfertigung bedürfen.“

Weniger genau weiß er, ob einer der Mofafahrer keinen Helm trug, ob zuvor eine Haussuchung stattfand, ob zum Zeitpunkt des Unglücks ein Streifenwagen in der Nähe war, ob die Freunde der Toten vernommen worden sind. Denn seines Wissens sei das doch alles schon seit Donnerstag vom Tisch. Und er könne die Gerüchte doch nicht bestätigen.

„Niemand, wirklich niemand glaubt uns“, sagt Samis Freund. Und: „In ein paar Wochen fahren die Züge hier wieder genauso schnell wie früher.“ Die Schranke wird eine Halbschranke bleiben, trotz der beiden Kindertagesstätten ganz in der Nähe. Früher standen auch hier Obstbäume. Und als sie in den Sechzigern von den Schlichtbauten verdrängt wurden, erzählt ein früherer Fischbeker, da habe man schon die Bewohner als Asoziale bezeichnet. Zur Begründung soll damals das nie bestätigte Gerücht ausgereicht haben, daß diese Leute Hühner auf ihren Balkonen hielten.