"Alle verschieden - Alle gleich"

■ Veränderte Identitäten, veränderte Wünsche - Junge Berliner Türken und Türkinnen diskutierten über ihren Lebensalltag und wehren sich gegen falsche Rollenzuweisungen

„Unsere Generation steht für eine neue Idee. Nämlich für die Kombination mehrerer Identitäten.“ Selbstbewußt steht die siebzehnjährige Gymnasiastin Sidal Avar am Rednerpult und nimmt eine Standortbestimmung vor.

Was das Türkische Wissenschafts- und Technologiezentrum (BTBTM) mit dem Jugendfestival „Alle verschieden – Alle gleich“ am Wochenende dem Publikum in der Werkstatt der Kulturen bot, war nicht weniger als der Start einer neuen Diskussionskultur. Rund dreißig DeutschtürkInnen im Alter zwischen sechzehn und dreiundzwanzig Jahren entzogen den Multikulti-Experten, Lobbyisten und Sozialarbeitern die Definitionshoheit darüber, wie es ihnen bei ihrem Leben „zwischen allen Stühlen“ zu ergehen habe.

„Wir sind es leid, entweder auf das Bild des Kopftuchmädchens oder des gewalttätigen Mitglieds einer Jugendgang reduziert zu werden“, umriß die Lehramtsanwärterin und Organisatorin des Festivals, Nurdan Kütük, ihr Anliegen.

Selbstkritisch analysierten die fast ausnahmsweise weiblichen Jugendlichen ihren Lebensalltag und die Fragen: Wie lebt es sich als in Berlin geborene und aufgewachsene junge Deutschtürkin? Was haben wir mit anderen Altersgenossen gemein, was unterscheidet uns von ihnen? Wo liegen unsere Chancen? Weder die Eltern noch die bundesdeutsche Gesellschaft wurden geschont.

Persönlichkeiten präsentierten sich, die darauf verzichteten, eine große Klage anzuheben, sondern mit kühlem Kopf eine Veränderung herbeiführen wollen.

Nachfolgend dokumentieren wir einige Auszüge aus den Referaten.

Eberhard Seidel-Pielen

Fragen der Identität:

„Die türkischen Jugendlichen werden Tag für Tag mit ihrer Identität konfrontiert. Sie müssen sich sowohl in der türkischen als auch in der deutschen Gesellschaft ständig beweisen, um jeweils von ihnen akzeptiert zu werden.

Die türkischen Eltern haben Angst vor den Deutschen, die ja so anders sind als sie selbst. Die deutsche Gesellschaft ist für sie unmoralisch, egoistisch und materialistisch. Die türkische Bevölkerung der ersten Generation ist von den gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei geprägt.

Dies hat auch Auswirkungen auf ihre Kinder. Worüber definieren wir uns eigentlich. Wir leben hier mit zwei Kulturen. Haben wir uns für eine entschieden? Müssen wir das überhaupt?“ Sidal Avar, 17, Gymnasiastin

Darstellung in den Medien

„Ausländer müssen endlich als Menschen mit Ängsten, Freuden und Gedanken gezeigt werden. Wir sind nicht nur Konkurrenz und Bedrohung und wollen auch nicht darauf reduziert werden.

Erst wenn wir nicht mehr die Opfer oder die potentiellen Täter sind, können sich die Deutschen mit den Ausländern als Menschen identifizieren.“ Ipek Çetinkaya, 19, Gymnasiastin

Fremdenfeindlichkeit und Rassismus

„Wir sind Kinder von Migranten- Eltern, die einst als Gastarbeiter eingeladen worden sind. Ja, sie haben sich unterdrücken lassen müssen, denn sie hatten eine Familie durchzubringen. Sie waren gezwungen, ihre eigene Würde zu verlieren und ihren Stolz zu unterdrücken! Nun sind wir da! Wir stellten fest, daß die Türken beim Thema Ausländerfeindlichkeit manchmal zu empfindlich reagieren, oder nicht?! Ich bin der Meinung, daß auf diese Weise den Deutschen von vornherein jegliches Verständnis abgesprochen wird. Jedoch muß ich kritisch bemerken, daß wir uns immer wieder für irgendwelche traditionellen Eigenschaften rechtfertigen, geradezu entschuldigen müssen. Dies ist auch ein Grund, warum Türken irgendwie immer ihre eigenen Kreise beibehalten, weil sie einfach nicht so genommen werden, wie sie sind. Entweder ganz deutsch oder ganz türkisch! Was soll das?!“ Dalyan Tașkiran, 17,

Gymnasiastin

Konflikte mit den Eltern

„Ein wesentlicher Unterschied zwischen deutschen und türkischen Familien ist der, daß sich die ersteren über die Selbständigkeit des Kindes freuen, wobei die letzteren eher Angst vor dieser Entwicklung haben, die mit Sicherheit eine Entfremdung zwischen Eltern und Kind mit sich bringt.

Aus den Kindern werden selbständige Jugendliche, denen sich die Eltern nicht mehr gewachsen fühlen. Sie verlieren den ,Überblick‘ und neigen zu ,Over-Protection‘ und können ihre Kinder nicht loslassen.“ Gülten Akgül, 17, Gymnasiastin

Probleme der Mädchen

„Die Eltern haben Angst, daß ihre angeblich naive Tochter etwas Falsches macht, zum Beispiel der gleichaltrigen deutschen Freundin nacheifern, indem sie auch einen Freund haben könnte.

Um den Ruf nicht zu gefährden, halten die Eltern sehr an der Religion und der Kultur fest und möchten ihre Kinder entsprechend erziehen. Denn die eigene Kultur und insbesondere der Koran schreiben den Kindern Respekt und Gehorsam gegenüber den Eltern vor.“ Dilek Gökdemir, 18, Gymnasiastin

Probleme der Jungen

„In der Erziehung neigen manche Eltern dazu, ihren Kindern etwas mit Gewalt einzutrichtern, daher ist es für den jungen Türken der Normalfall, die Freundin beziehungsweise bestimmte moralische Werte durch Gewalt zu schützen. Auf türkischen Jungs, die ihren Schwestern erlauben, einen Freund zu haben, lastet ein gesellschaftlicher Druck. Denn es würde die Ehre der Familie zerstören, wenn Verwandte, Nachbarn oder Freunde die Schwester mit einem anderen Jungen zusammen sehen würden. Aber ist es deshalb richtig, die Jungs als Machos zu diskriminieren?“ Tolga Yanilmaz, 19, Gymnasiast

Die ausführlichen Referate können bezogen werden bei: BTBTM, c/o

Studentisches Koordinationsbüro,

Straße des 17. Juni 135,

10623 Berlin