■ Nachschlag
: Der IM als literarische Figur? Eine Lesung und Diskussion zum Thema?

Nach zwei Stunden Diskussion kam endlich die befreiende Frage aus dem Publikum: „Was ist den hier depressiv?“ Schade, daß Lesungen verschiedener Autoren immer einen Titel haben müssen, denn so hatte der Rezensent weniger mit dem Werk von Wolfgang Hilbig, Lutz Rathenow und Uwe Kolbe zu tun, als mit der großspurigen Ankündigung des Leseabends: „Sprache der Depression – Der Inoffizielle Mitarbeiter als literarische Figur“. Literaturwissenschaftler können sich wieder zurücklehnen. Der „Inoffizielle Mitarbeiter“ wurde auch am Donnerstag im Dienstsitz des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes in der Mauerstraße zu keiner unverwechselbaren, komischen oder tragischen Figur, mit deren massenhaftem Auftreten in der deutschen Gegenwartsliteratur nach diesem Abend gerechnet werden müßte. An der „Sprache der Depression“ mühte sich der Moderator Hans-Georg Soldat (ehemals Literaturredakteur beim RIAS) mit Hinweisen auf die mit Genitiven gespickte Sprache des MfS oder auf Viktor Klemperer und einer „lingua securitatis“ wenig überzeugend ab. Blieb nur der IM als Romanheld. Aber das war irgendwie Lesen im Kaffeesatz.

Am weitesten lehnte sich noch Lutz Rathenow (Jahrgang 1952) aus dem Fenster, der vom IM als „Sklaven mit Elitebewußtsein“ und einer „reizvollen literarischen Vorlage“ sprach. Dazu las er Biermann-Lieder aus Poetenseminaren und Dekrete der Staatssicherheit. Das war nicht unbedingt deprimierend, aber so eindrücklich, daß ein Lautsprecher Rathenows basso continuo zum Opfer fiel. Uwe Kolbe (Jahrgang 1957) indessen wollte mit der literarischen Figuren-Sucherei und der „Sprache der Depression“ nichts zu tun haben. Kolbe war in den Siebzigern zwar auch auf Poetenseminaren, gab mit seinen Episoden aus dem „kalten Frieden“ aber zu, daß er doch lieber posthum über das Ganze verhandeln würde.

Schade – konnten an diesem Abend doch die wirklich spannenden Fragen gestellt werden: Wie war es denn mit Sascha Anderson, der Literaturszene am Prenzlauer Berg und lauter IMs dazwischen? Und was bringen eigentlich Veranstaltungen, mit den immer gleichen Opfer auf dem Podium und im Auditorium? Und geht das überhaupt: eine „Literatur der Abrechnung“, so kurz danach? Darauf wußte auch Altmeister Hilbig (Jahrgang 1941) keine Antwort, deutete mit Passagen aus seinem Roman „Ich“ aber an, daß man über die Geschichte und das Bewußtsein eines Stasispitzels mehr erfährt, wenn man versucht, die Innensicht eines IM einzunehmen. Dem hielt zumindest der Lautsprecher stand. Moritz Ehrmann