: Die Justiz wird auf direkte Weise eingeschüchtert
■ Korsika: Achtzehn nationalistische Morde in zwei Jahren. Keiner ist aufgeklärt
Paris (taz) – „Für den Friedensprozeß ist die Verlagerung der Ermittlungen kein Hindernis. Im Gegenteil“, erklärte Charles Pieri, Generalsekretär von „A Cuncolta naziunalista“, in der vergangenen Woche im Interview mit der Zeitung Le Monde. Wenige Tage später wurde der Wunsch des nationalistischen Hardliners wahr: Die Staatsanwaltschaft entzog den Gerichten in Ajaccio und Bastia ihre fünf „heißesten“ Fälle, bei denen es um Morde oder Mordversuche im nationalistischen Milieu geht. Sie werden nun von der Antiterrorabteilung in Paris bearbeitet.
Rein rechtlich ist das ein korrekter Verlauf. Nach einem Gesetz aus dem Jahr 1986 haben die Antiterrorrichter in Paris grundsätzlich nationale Zuständigkeit. Es gibt jedoch einen Ermessensspielraum in der Frage, welche Verfahren wohin gehören, und den nutzen die französischen Behörden im Fall von Korsika extensiv aus. Ganz im Sinne der Nationalisten: „In Paris“, so heißt es in ihren Kreisen, „kann man verhandeln.“
Die Richter der Antiterrorabteilung arbeiten eng mit dem französischen Innenminister zusammen. Wenn der gerade mit bewaffneten Kämpfern von der Insel verhandelt – was in den vergangenen Jahren nach unbestätigten Berichten immer wieder geschah –, halten sie sich zurück. So führten bislang fast alle Korsika-Ermittlungen bei der Antiterrorabteilung zu Verfahrenseinstellungen. Die Freilassung der 14 Sperone-Täter ist das Paradebeispiel: Die mit Sprengstoff und Waffen ausgestatteten Nationalisten hatten sich angeschickt, ein Zentrum für Thalassotherapie in dem korsischen Badeort Sperone in die Luft zu sprengen, als die Polizei sie ertappte und nach einer Schießerei festnahm. Die Antiterrorabteilung in Paris zog das Verfahren sofort an sich. Nach ein paar Monaten war die Sache erledigt – „Verfahrensfehler“ lautete die Begründung.
Die Richter vor Ort hingegen klagen über ihre unbequeme Sandwichposition zwischen Paris und den Nationalisten. Ihnen werden nicht nur heikle Verfahren entzogen, sie sind außerdem Attentatsziele, wenn sie in ihren Ermittlungen „zu weit“ gehen. Die Einschußlöcher in der Fassade des Gerichtsgebäudes von Ajaccio stehen alle im Zusammenhang mit politischen Verfahren. Im vergangenen Jahr brannten Autos von Richtern aus, explodierten Bomben vor ihren Wohnungen und ergingen zahlreiche Drohungen.
Neben direkter Gewalt kennen die korsischen Nationalisten eine Menge anderer Druckmittel zur Einschüchterung der Justiz. So zückte François Santoni, Führungsmitglied der „A Culcolta naziunalista“, einen ganzen Stapel von Visitenkarten hoher Mitarbeiter des Innenministeriums als er wegen unerlaubten Waffenbesitzes einem Richter vorgeführt wurde. Eine bewährte Methode auf der Insel mit nur 250.000 Einwohnern, wo jeder jeden kennt, ist der direkte Druck auf Geschworene und Zeugen. Schon die Besetzung eines Schwurgerichts ist kompliziert – im letzten Moment häufen sich regelmäßig die ärztlichen Atteste. Wer tatsächlich Geschworener wird, sieht sich nicht selten von einem Cousin oder Freund der Familie ins Gebet genommen. Notfalls demonstrieren ein paar in der ersten Reihe des Zuschauerraums plazierte Mitglieder einer nationalistischen Bewegung, daß die Geschworenen unter Beobachtung stehen. Zeugen, sofern es sie überhaupt gibt, können sich ungewöhnlich häufig vor Gericht an nichts erinnern.
Anfang des Jahres forderten korsische Richter in einem Schreiben an Justizminister Jacques Toubon mehr Rückendeckung für ihre Arbeit, um die Gleichheit aller Franzosen vor dem Gesetz durchsetzen zu können. Anstatt einer Antwort des Ministers erhielten sie ein Rundschreiben der Staatsanwaltschaft, das sie aufforderte, künftig noch mehr Fingerspitzengefühl beim Umgang mit terroristischen Taten zu zeigen.
Ähnlich allein gelassen und für politische Zwecke benutzt fühlt sich die Polizei auf Korsika. Nachdem sie in der vergangenen Woche sogar eine Demonstration gegen ihren Innenminister abhielt, schickte Paris mehrere Polizeidirektoren zur Beruhigung auf kurze Inselbesuche.
„Es gibt keine protegierten Personen oder Gruppen“, versuchte Claude Guéant, Direktor der nationalen Polizei, seine Beamten zu beruhigen. Seit Jahresanfang ist die Gendarmerie auf der Insel zum Anschlagsziel geworden. Neben den längst üblichen Attentaten auf Privatwohnungen von Polizisten gab es plötzlich mehrfach wöchentlich Explosionen vor den Polizeiwachen. Im April kam sogar ein Polizist bei einem Schußwechsel mit Nationalisten ums Leben.
Ein alter Lehrsatz der Polizei auf der Insel lautet, bei allen drei nationalistischen Bewegungen gleichmäßig zuzuschlagen, um glaubwürdig zu bleiben. Entgegen dieser Vorsichtsregel mischten sich in diesem Frühjahr Polizisten direkt in die innernationalistischen Kämpfe ein. Sie spielten das Protokoll der Zeugenaussage eines Chefs der „A Conculta naziunalista“ dessen Gegnern zu. Inzwischen wird das Protokoll als Flugblatt verteilt, das den Mann als Verräter an der nationalistischen Sache brandmarkt. Der FLNC-Canal historique rächte sich umgehend: Am 13. Mai forderte er seine Leute auf, sich Festnahmen fürderhin bewaffnet zu widersetzen. Drei Polizeibeamte wurden „aus Sicherheitsgründen“ auf das Festland versetzt. 18 Morde haben die französischen Behörden seit 1994 im nationalistischen korsischen Milieu registriert. Keiner von ihnen ist bislang aufgeklärt. Die fünf Verfahren, die seit vergangener Woche bei der Antiterrorabteilung in Paris liegen, könnten – so sie tatsächlich aufgeklärt werden – eine neue Ära eröffnen. Dorothea Hahn
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