: Die große Wut und was aus ihr geworden ist
Vor dreißig Jahren mobilisierte Mao Tse-tung die Mittelschüler und Studenten, um den revolutionären Funken in China am Leben zu halten. Ein Versuch, heute die „große proletarische Kulturrevolution“ zu verstehen ■ Von Christian Semler
Wie soll die revolutionäre Sache am Leben erhalten werden, wenn die Erinnerung an die „großen Tage“ verblaßt ist, zum Feiertagsritual verkommt, wenn die alten Revolutionäre bequem geworden sind, wenn die Hoffnungen auf einen neuen Weltzustand in der Mühle der Tagesgeschäfte kleingemahlen sind? Was bleibt der neuen Generation, wo doch die Alten alle Heldentaten monopolisiert und die Gesellschaft aufs beste eingerichtet haben? Thomas Jefferson, einer der Initiatoren der amerikanischen Revolution, hat das Problem als erster gesehen. Er vertraute den basisdemokratischen Institutionen als Quelle revolutionärer Erneuerung, proklamierte aber auch das Recht jeder politischen Generation auf ihre Revolution. Letzteren Gedanken verwarf er später als nicht praktikabel.
Die siegreiche bolschewistische Revolution in Rußland hatte einen anderen Begriff von Regeneration. Sie sah den Bürokratismus in der Partei als Ausdruck weiterwirkenden feudalen und kleinbürgerlichen Bewußtseins an, mithin als klassenbedingt. Da die Staatsmacht, da das Schicksal der Revolution zwar nicht theoretisch, aber praktisch in den Händen der Partei lag, mußte die Partei sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Sie wurde zum Orden samt Ordensregeln, samt Kasteiung und Reinigung. Sie regenerierte sich durch Säuberung und Aufnahme „frischen Blutes“ aus dem Proletariat. Danach galt es, das Klassenbewußtsein dieser „Fortsetzer der Revolution“ in Parteibewußtsein umzumodeln. Zwischen der Partei und den „Massen“ gab es kein institutionalisiertes Spannungsverhältnis, nur „Transmissionsriemen“, wie die völlig machtlosen Gewerkschaften. Die Folge: extremer politischer Konformismus.
Mao Tse-tung, der Führer der chinesischen Revolution, vertraute ebensowenig wie die Sowjets der bewußtseinsbildenden Kraft demokratischer Institutionen. Ebensowenig befürwortete er das Recht gesellschaftlicher Gruppen, sich gemäß ihren Interessen zu organisieren. Er hielt aber auch nichts von der Fähigkeit der Kommunistischen Partei zur Selbstreinigung. Daß sich die sozialistische Gesellschaft nach der Revolution relativ ruhig und planmäßig entwickeln würde, war für ihn nichts als Selbsttäuschung. Nur mit äußerster Willensanstrengung „der Massen“ war es möglich, den revolutionären Funken am Leben zu halten und ein Stückchen Kommunismus zu verwirklichen. Mit einem Satz: Mao reagierte auf die Tendenz realsozialistischer Regime zur Versteinerung und Stagnation mit extremem Voluntarismus.
Karl Marx hatte das Proletariat als eine ziemlich buntscheckige Versammlung angesehen, zwar fähig zur einheitlichen Klassenaktion, aber mit ziemlich ausgeprägten unterschiedlichen Erfahrungen und Kampftraditionen. Für Mao Tse-tung waren „die Massen“ ein unbeschriebenes, weißes Blatt, auf die die Revolutionäre „die schönsten Gedichte schreiben konnten“. Die Massen waren zwar weise, und man mußte bei ihnen in die Lehre gehen. Aber ihre Lebenswelt und ihre Erfahrungen waren nur das Rohmaterial für die Untersuchungs- und Erkenntnisarbeit der Revolutionäre.
„Die Massen“, konkret: die Bauernmassen des ländlichen China, galten Mao aber nicht nur als abstrakte, ideologische Größe. Er hatte, anders als Marx oder Lenin, jahrzehntelang unter armen Bauern gelebt, war der Befehlshaber von Bauernheeren gewesen. Die Stadtmenschen, besonders die mit Bildung, behandelte er mit Mißtrauen und Verachtung. Er dachte, sie müßten lange Zeit das arme Leben der Bauern teilen, ehe sie einigermaßen kuriert seien vom bürgerlichen Individualismus. Diese Einstellung wurde für eine ganze Schüler- und Studentengeneration Chinas zur Katastrophe.
Seit 1962 interpretierte Mao den Kampf um die „Weiterführung der Revolution“ als Klassenkampf, bei dem der „Hauptschlag“ gegen die „kapitalistischen Machthaber in der Partei“, also gegen die neue bürgerliche Klasse, zu führen sei. „Die große proletarische Kulturrevolution ist ihrem Wesen nach eine unter den Bedingungen des Sozialismus vom Proletariat gegen die Bourgeoisie und alle anderen Ausbeuterklassen durchgeführte große politische Revolution.“ Und in Maos Rundschreiben vom 17. Mai 1966, das als Anfangsdatum der Kulturrevolution gilt, heißt es, daß der Kampf gegen die kapitalistischen Machthaber in der Partei „unvermeidlich ein Kampf auf Leben und Tod ist“.
Blieb nur die Frage, wer in diesem Kampf die Bourgeoisie und wer das Proletariat war. Daß darauf die Zentrale, also Mao, antwortete, kennzeichnet die große Kuturrevolution als große Manipulation. Auf der Führungsebene war das Angriffsfeld stets durch die Parteiführung vorbestimmt: Hauptvertreter der schwarzen Linie sind Staatspräsident Liu Schao-tschi und seine Frau, Peng Tschen, der Bürgermeister von Peking, später Deng Xiaoping, der Generalsekretär. Nicht Außenminister Tschen Yi, erst recht nicht Ministerpräsident Tschou En-lai – ihn braucht Mao, damit der Regierungsapparat weiterläuft. Niemand aus der Armeeführung, da ist Marschall Lin Piao davor, der, die Kulturrevolution vorziehend, in der Armee bereits Rangabzeichen und Privilegien der Offiziere abgschafft hat.
Aber welche Feinde gilt es sonst noch zu entlarven? In der ersten Phase der Kulturrevolution geht es (auch zur Freude der europäischen Studentenbewegung) gegen die akademischen Autoritäten, dann gegen alle, die zur „stinkenden Nr. 9“ gehören, also die etablierte Intelligenz, schließlich gegen jeden, in dessen Vergangenheit oder bei dessen Eltern sich auch nur der kleinste Hinweis auf „nichtproletarische“ Verhaltensweisen finden.
Wer aber verkörperte die proletarische Linie? Nicht so sehr das empirische Proletariat, das, mit der Ausnahme Shanghais, niemals ins Zentrum des Sturms geriet. Proletarische Revolutionäre waren die Millionen Mittelschüler und Studenten, die nach Schließung der Universitäten und Schulen das Land durchstreiften und „Kampf, Kritik, Umgestaltung“ entfachten. Die dabei angewandten Methoden treiben heute noch selbst denen die Schamröte ins Gesicht, die, wie der Autor dieser Zeilen, die Kulturrevolution aus der Ferne mit Begeisterung verfolgten. Die von den Rotgardisten Arretierten, meist Menschen, die lange Jahre für ihr sozialistisches Ideal gearbeitet hatten, wurden eingesperrt, gefoltert, öffentlich gedemütigt. Sie mußten stundenlang mit dem Schandhut auf dem Kopf die Hände nach hinten gespreizt, den Kopf zu Boden, in der „Fliegerhaltung“ verharren. Ihre Möbel gingen nach „Hausdurchsuchungen“ in Brüche, ihre Bücher wurden verbrannt.
Zwar hatte der Beschluß des ZK vom August 1966 Gewaltanwendung untersagt, aber die Äußerungen der Parteiführung ließen wenig Zweifel daran, daß die Schurken nur das erhalten hatten, was ihnen gebührt. Erst als verschiedene Fraktionen der Roten Garden sich bewaffneten und es in einigen Provinzen Chinas zu blutigen Schlachten kam, griff Mao Tse-tung ein – und auch dies mit vollendeter Gleichmütigkeit gegenüber den Opfern.
Kaum jemand, einschließlich der Kinder der Delinquenten, hat sich der Orgie der Gewalttätigkeit gegenüber wehrlosen Opfern entgegengestellt, kaum jemals regte sich Mitleid. Als sich aber der Wind gedreht hatte, nach 1977, als die Kulturrevolution offiziell verdammt wurde, begann die „Literatur der Narben“ zu blühen, die Bekenntnisse der „verlorenen Generation“, die viel Anklage, aber wenig selbstquälerische Zweifel hinsichtlich der eigenen Handlungsweise enthielt. Tschen Kaige, der bedeutende Filmregisseur, hat in seinen „Kinder des Drachen“ zu Beginn der 90er Jahre diese Reaktion so charakterisiert: „Als sich die Tore der Hölle auftaten, sah man nur geknechtete Menschen aus ihnen hervorquellen. Wo aber sind ihre Peiniger gewesen? Man verfolgte die früheren Tempeldiener unseres Gottes Mao und beschimpfte ihren Tempel. Fragte man jedoch nach individueller Verantwortung, erhielt man nur Antworten wie: ,Schuld war der politische Druck, die blinde Autoritätsgläubigkeit, die Macht der Masse.‘“
Tschen Kaige, der, 14jährig, seinen eigenen Vater bei einer Anklagesitzung schlug, hat die absolute Gefühls- und Mitleidlosigkeit der Kuturrevolutionäre der Angst zugeschrieben, selbst aus dem Kollektiv ausgeschlossen zu werden, von dem man sich gänzlich abhängig wähnte: „Auch die Kulturrevolution war eine solche aus der Angst entstandene Bewegung im Strom der Masse.“
Aber ist sie, auf seiten der „Täter“, wirklich nur diese Mixtur aus blindem Haß und blinder Verehrung gewesen? Viele der Schüler und Studenten, die nach zwei Jahren des Wütens und zehn sinnlos auf dem Land verbrachten Jahren in die Städte zurückkehrten, haben eine andere Bilanz gezogen. Sie sahen die Jahre der Kulturrevolution als eine Zeit des politischen Aufbruchs, in der sie, Schritt um Schritt, die Ketten der Ideologie sprengten, um sich schließlich, zu Ende der 70er Jahre, als Wandzeitungsschreiber an der Mauer der Demokratie wiederzufinden.
Sie hatten als Bewunderer Maos ihre Revolte begonnen, weil sie seine Ideen einem verfaulten Herrschaftssystem aufzwingen wollten. Die Radikalen unter ihnen wollten „an allem zweifeln“. Erst wandten sie sich gegen Maos Ehefrau Tschiang Tsching, von der sie sich verraten fühlten, dann dagegen, daß sie mit der Armee und Kadern der Partei die „revolutionäre Dreierverbindung“ eingehen und die Revolution beenden sollten. Schließlich geriet auch der „Große Steuermann“ und das von ihm repräsentierte System in den Bannkreis ihrer Kritik.
Exemplarisch für diese Selbstinterpretation ist Wei Jingshen, der bekannteste demokratische „Dissident“ Chinas, der seine Wandzeitung über die „Fünfte Modernisierung“ (die Demokratie, ohne die die „vier Modernisierungen“ Chinas fruchtlos blieben) mit 15 Jahren Kerker büßte und der jetzt erneut eine 14jährige Gefängnishaft erleidet. November 1980 schrieb er in seinem Aufsatz „Meine geistige Entwicklung“: „Der Begriff Kulturrevolution ist durchaus angemessen, denn die Gründe, die diese Revolution auslösten, sind im Geistigen zu suchen. Es war die Explosion einer Wut, die während langer Jahre unterdrückt worden war, aber auch das Ergebnis der Unvereinbarkeit dessen, was existierte, mit der überkommenen Mentalität. Im Lauf der Kulturrevolution hat man ... in fast allen Teilen der Gesellschaft beobachten können, wie die unterdrückten Massen sich den Herrschern entgegenstellten, die sie unterdrückten... Jeder fühlte damals zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt, daß die Auffassung, die er vorher von den Dingen gehabt hatte, nur ein Teil der Wahrheit war und daß es notwendig wurde, das, was er glaubte, neu zu denken und neu zu definieren.“
So lange Deng Xiaoping sich seiner neuen Herrschaft nicht sicher sein konnte, duldete er Untersuchungen über die Verbrechen der Kulturrevolution und ermunterte sogar manchmal Anklagen, die auch vor Mao Tse-tung nicht haltmachten. Anfang der 80er Jahre war es mit diesem Freimut vorbei. Selbst Autoren, die in durchaus parteikonformistischer, Deng unterstützender Grundhaltung über die Epoche von 1966 bis 1976 geschrieben hatten, sahen sich jetzt der „geistigen Umweltverschmutzung“ bezichtigt. Eine von Deng inspirierte Resolution des Zentralkomitees der Partei vom Juni 1981 legte die Grenze fest, bis zu der geforscht und aufgedeckt werden konnte: die Kommunistische Partei, die „Diktatur des Proletariats“ die „Mao-Tse-tung- Ideen“ und der reale Sozialismus blieben sakrosankt.
Nach der Demokratiebewegung vom Frühjahr 1989 wurde diese Linie verschärft praktiziert. Die in Hongkong erscheinende Wochenzeitung Chengming berichtete von einer dreijährigen Gefängnisstrafe, zu der ein Forscher der zentralen Parteischule verurteilt wurde, weil er, über die Kulturrevolution schreibend, Dengs selbstkritischen Brief von 1971 (mit der Bitte um Eingliederung in die Parteiarbeit) an Mao veröffentlicht hatte.
Heute wird von offizieller Seite wieder der „antirevisionistische“ Kampf Maos als Motiv für die Entfesselung der Kulturrevolution gewürdigt, wobei der Kollaps der Sowjetunion und die Ideen Gorbatschows als zeitgenössische Ausprägung des Revisionismus gebrandmarkt werden. Der zeitgenössische „Antirevisionismus“ aber ist Sache der Sicherheitspolizei. Eine öffentliche Debatte über die Ursachen, den Verlauf und das Scheitern der Massenbewegung Kulturrevolution darf nicht stattfinden – und findet nicht statt. Vielleicht deshalb, weil es ein unsichtbares Band gibt zwischen den Kids, die im Juni 1966 am Platz des Himmlischen Friedens Mao Tse- tung zujubelten, und den Studenten, die am gleichen Platz im Frühjahr 1989 der Göttin der Demokratie ein Denkmal setzten.
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