: „Chirac will handeln, dazu braucht er die Nato“
■ André Brigot, Wirtschaftswissenschaftler und Militärsoziologe an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales“ in Paris, über Frankreichs Motive, in die Nato zurückzukehren
taz: Herr Brigot, welche sind die Gründe für die Rückkehr Frankreichs in die Nato?
André Brigot: So weit sind wir noch nicht. Aber hinter der Absicht stehen verschiedene Gründe. Einmal will Präsident Chirac außenpolitisch stärker handeln können; dazu braucht er Instrumente, unter anderem die Nato. Desweiteren ist er eher atlantisch als kontinental orientiert. Seine Vorgänger hatten eine stärkere kontinentale Kultur.
Die Nato war eine Organisation des Kalten Krieges. Warum hat Frankreich einen Zeitpunkt gewählt, wo diese „raison d'être“ entfallen ist?
Auch wenn der Warschauer Pakt nicht mehr existiert – die Nato wird auch weiterhin als wichtig für die Sicherheit des Westens wahrgenommen. Nur sind die Risiken jetzt andere.
Was sind die neuen Risiken?
Nun, wer hat denn vor 1991 geahnt, daß es am Golf ein Problem geben würde. Und wer hätte vor 1995 geglaubt, daß auf dem Balkan solche Probleme auf uns zukommen würden. Die Frage ist doch, ob der Rückgriff auf militärische Gewalt seit 1990 undenkbar geworden ist, weil der Warschauer Pakt nicht mehr existiert. Ob man den Militäraspekt in den internationalen Beziehungen abschaffen kann. Die Risiken sind heute vor allem innenpolitischer Natur: Migration, Kriminalität, Drogen.
Chirac hat zum Jahresanfang eine große Militärreform angekündigt, darunter auch eine neue Militärdoktrin. Gibt es da einen Zusammenhang mit der Rückkehr in die Nato?
Bei der Rüstungsindustrie muß etwas getan werden, weil sie sonst in den Ruin treibt. Und die Abschaffung des Militärdienstes ist eine symbolische Reform, weil sich dahinter die wirklich große Änderung verbirgt: die Einführung einer Berufsarmee. Eine Armee, die in weit entfernten Regionen eingesetzt werden kann. Chirac hat aus dem Golfkrieg gelernt, da waren die Briten mit ihrer Berufsarmee stärker und schneller. Aber mit dem Militärdienst wird zugleich jede demokratische Kontrolle abgeschafft. In Deutschland kann der Bundestag Einsätze kontrollieren, in Frankreich kann der Präsident Leute an den Golf oder nach Exjugoslawien schicken, ohne daß es darüber eine Debatte gibt. Was die Nato betrifft, war es immer ganz praktisch, zu sagen, „die Franzosen sind arrogant, die machen nicht mit“. Die ersten, die die Nato-Reform wollten, waren aber kurioserweise die Briten. Sie haben erkannt, daß die US-Interessen nicht immer mit den europäischen identisch sind, und daß Europa die französischen Mittel nützen kann, um autonomer zu werden.
Das Motiv war also die alte Konkurrenz mit den USA?
Das höre ich jetzt seit 40 Jahren, daß die Franzosen kleine Amerikaner sein wollen. Aber eigentlich ist es doch so, daß die Europäer 90 Prozent der Allianz ausmachen, und daß sie nicht in der Lage sind, allein zu handeln. Das sehen doch die Deutschen, die Italiener und die Briten ähnlich wie Frankreich.
Will Frankreich sein Militärmodell den anderen Nato-Ländern aufzwingen? Soll zum Beispiel auch Deutschland die Wehrpflicht abschaffen?
Es gibt kein französisches Modell. Allenfalls den Willen, etwas Autonomie zu haben. Vergleichbar den Briten gegenüber der Europäischen Union und den Deutschen, die eine Rolle im Weltsicherheitsrat spielen wollen. Bei dem Militärdienst haben die Franzosen vermutlich nicht daran gedacht, welche Auswirkungen ihre Reform auf die anderen Länder haben könnte. Jetzt sind die Deutschen die einzigen, die eine große Armee haben. Man könnte vermuten, daß den Deutschen damit bestimmte Aufgaben zuwachsen würden. Aber ich glaube, daß es in dieser Hinsicht, sei es aus Dummheit, sei es aus Arroganz, keinerlei Überlegungen gegeben hat. Interview: Dorothea Hahn
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