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Hören ist wehrlos

■ Helmut Lachenmann, Komponist des nächsten Auftragswerkes der Hamburg Oper, legt seine musikalische Weltsicht dar

Musik läßt sich bekanntlich nicht beschreiben, aber es läßt sich trefflich über sie schreiben. In einer Aufsatzsammlung unternimmt der 1935 in Stuttgart geborene Komponist Helmut Lachenmann dieses kreative Wagnis mit beachtlichen Resultaten. Lachenmann, Schüler von Johann Nepomuk David und Luigi Nono, zählt als Autor einer dem bürgerlichen Musikbegriff sich radikal verweigernden Musik zu den großen, unbehaglichen Komponisten unserer Zeit.

Was wie ein saloppes Witzwort anmutet, deutet aber auf eine in der Tat enorm verwickelte Klangwelt, die in provokanten Tönen und mit bohrender Intelligenz musikalische Traditionen unserer bürgerlichen Gesellschaft zerbröckeln läßt. Der Band mit dem Titel Musik als existentielle Erfahrung ist in neun Abschnitte unterteilt, die theoretische, politische, biografische, polemische und analytische Aufsätze sowie Lachenmanns Kommentare zu seinem eigenen Werk beinhalten.

Vieles, was er in den Schriften, zum Großteil aus den 70er und 80er Jahren, zum Ausdruck bringt, berührt heute um so mehr, da die offensichtlichen Auswüchse kommerziellen Irrsinns den Musikmarkt fest im Würgegriff haben. So liest man bei Lachenmann, mit dessen Arbeit Hamburg im Januar 1997 in direkten Kontakt kommen wird, wenn sein Auftragswerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern hier uraufgeführt wird: „Kunst, einst Medium der Erhellung, wird im Zeitalter der Angst der Menschen vor seinem eigenen Fortschritt zum Medium der Verdrängung.“ Wenn heute allerorten die musikalische Häppchenkultur bejammert wird, pointierte Lachenmann schon 1973 den Stand der Dinge: „Seit Mozart, Schubert und Mahler weiß man auch in der Musik, das Fleisch des in Todesangst gehetzten Tieres als besonderen Leckerbissen zu schätzen.“

Auch die die jüngere Musikgeschichte betreffenden Analysen werfen ein mitunter neues Licht auf kulturpolitische Mechanismen und Mythen wie den Darmstädter Avantgarde-Mythos: „Die Öffentlichkeit hat sich bis heute durch all diese Neuansätze nicht verunsichern lassen. Ihre Abwehrstrategie war und ist die der – tödlichen – Umarmung: Darmstadt wurde bis heute toleriert als das behördlich subventionierte Irrenhaus der Musikkultur.“ Wer sich mit Lachenmanns Musik beschäftigt, spürt sein Ringen, das Sich-Verweigern gegenüber einer naiven Klangschönheit: „Der Ruf nach Schönheit heute, sei es im Zuge der pluralistischen Einbeziehung aller nur irgendwie greifbaren Hedonismen oder im Aufbegehren eines reaktionären Katzenjammers aufgrund falscher Versprechungen und Hoffnungen oder im Namen egal welcher Akademismen: Er verdient mehr denn je unser Mißtrauen.“

Nicht ganz ohne Pikanterie scheint unter solchen Gesichtspunkten Lachenmanns großes Opernprojekt Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Dem vorliegenden Band ist zu entnehmen, daß Gudrun Ensslin und die RAF eine Rolle spielen könnten. Die Suche nach dem Glück, das durch eine inhumane Gesellschaft unmöglich gemacht wird – ein brenzliger Opernstoff, der auch Lachenmanns grimmige Schönheitsdefinition als Motto haben dürfte: „Schönheit: Das ist Ruhekissen oder Nadelkissen jener Gattung Mensch, welche niemals davon hat ablassen können, im Namen der Liebe zu hassen, im Namen der Wahrheit zu lügen, im Namen des Lebens zu töten, im Namen der Freiheit zu unterdrücken und im Namen der Verantwortung sich dumm zu stellen.“

Sven Ahnert

H. Lachenmann: Musik als existentielle Erfahrung. Breitkopf & Härtel, 454 S., 98 Mark

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