Machtvakuum an den Schulen

Unterrichtsboykott weitet sich aus. Schulsenatorin: Bezirke müssen für Einhaltung der Schulpflicht sorgen. Stadräte fühlen sich nicht zuständig  ■ Von Plutonia Plarre

In den Fluren und Klassenzimmern herrscht gespenstische Leere. Nur die Pausenglocke klingelt alle Dreiviertelstunde, als wäre nichts geschehen. In der Friedrich-Ludwig-Jahn-Hauptschule in der Kreuzberger Graefestraße wurde gestern den dritten Tag gestreikt. Seit Anfang der Woche protestieren die 360 Schüler gegen die bevorstehende Entlassung von drei Lehrerinnen. Die Frauen gehören zu den 1.300 befristet angestellten Lehrern, deren Verträge aufgrund der Sparmaßnahmen zum 19. Juni auslaufen sollen. Auch in anderen Schulen haben sich die Schüler und deren Eltern im Kampf um die geliebten Pauker zum Schulstreik entschlossen, nachdem Unterschriftenlisten und Demonstrationen in den letzten Wochen nichts genützt haben. In der Niederlausitz-Grundschule in der Reichenberger Straße blockierten gestern Eltern und Kinder von 8.00 bis 10.00 Uhr mit einem auf Decken ausgebreiteten großen Frühstück die Fahrbahn. In der Fläming-Grundschule in Friedenau standen die Pennäler wie am Vortag eine Stunde vor den Schultoren.

In den Kreuzberger Schulen sollen die Aktionen zunächst einmal bis zum Freitag weitergehen. „Wir warten dringend darauf, daß sich hier mal ein Politiker blicken läßt“, sagte die Vorsitzende des Bezirkselternausschusses, Barbara Seib. Auf die Briefe an Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und den Leiter des Landesschulamtes, Wilfried Seiring, sei bislang keinerlei Reaktion gekommen. Einzig die Kreuzberger Schulstadträtin Hannelore May habe für heute ihren Besuch angesagt. Einstweilen vertreiben sich die Lehrer der Friedrich-Ludwig-Jahn Schule die Zeit, indem sie die Zeugnisse vorbereiten. Rektor Jörg Carius wurde gestern in der taz fälschlich damit zitiert, er unterstütze den Streik. „Als Mensch habe ich Verständnis, aber als Schulleiter weise ich auf die Schulpflicht hin“, so Carius.

Der Schulboykott war gestern auch Thema in der Sitzung der Schulstadträte mit Stahmer. „Es ist Aufgabe der Bezirke, die Schulpflicht durchzusetzen. Wie sie das machen, ist ihre Sache“, faßte Stahmers Pressesprecherin Rita Hermanns das Ergebnis der Diskussion zusammen. Die Kreuzberger Schulstadträtin May (parteilos, für Bündnis 90/Die Grünen) habe erklärt, der Schulboykott der Friedrich-Ludwig-Jahn-Schule sei für sie kein Streik, sondern Engagement. Deshalb sehe sie auch keinen Grund einzugreifen. Die Verletzung der Schulpflicht kann mit bis zu 5.000 Mark geahndet werden.

Der Zehlendorfer Schulstadtrat Stefan Schlede (CDU) wies in der Sitzung darauf hin, daß die Schulstadträte gegenüber den Rektoren überhaupt keine Handhabe mehr hätten, die Einhaltung der Schulpflicht durchzusetzen. Seit dem vergangenen Jahr führt das Landesschulamt die Aufsicht über die Lehrstätten. „Wir Bezirksschulstadträte sind nur noch für den Hausmeister und die Sekretärinnen zuständig“ beschrieb Schlede das Dilemma. Den Schulstreik hält er für „völligen Unsinn, weil die Schüler damit etwas boykottieren, wonach sie eigentlich rufen“. Daß Schüler, Lehrer und Eltern gegen die Sparmaßnahmen auf die Straße gegangen seien, findet Schlede dagegen gut. Ohne diese „kreative Unruhe hätte Schulsenatorin Stahmer dem Senat bestimmt nicht 600 zusätzliche Zweidrittel- Lehrerstellen abgerungen, glaubt er. Die Personalsituation werde im kommenden Schuljahr auch dadurch verbessert, daß 450 Referendare mit einer Klage gegen das Schulamt erfolgreich ihre Einstellung zum 1. August 1996 durchgesetzt hätten.

Schulsenatorin Stahmer wies bei der gestrigen Sitzung der Bezirkschulstadträte darauf hin, die Schüler, Eltern und Lehrer sollten ihre „Energie“ lieber dazu verwenden, sich bei den Lehrern für die „Teilzeitoffensive“ einzusetzen. „Wenn jeder dritte Lehrer eine Unterrichtsstunde abgibt, könnten auf diese Weise 400 Stellen für Fristvertragler entstehen“, so Pressesprecherin Hermanns. Wenn diese 400 Stellen dann noch als Zweidrittelstellen vergeben würden, entstünden 600 neue Stellen.

Das Modell hatte Stahmer mit GEW und Landesschulamt erarbeitet. Die Zustimmung des Senats liegt inzwischen vor. Doch die Zeit laufe, weil die Fristverträge zum Beginn der großen Ferien endeten. Zu der Forderung der Ludwig- Jahn-Hauptschule, Stahmer, Diepgen und der Leiter des Landesschulamtes sollten endlich vor Ort Stellung zu den Sparmaßnahmen nehmen, bezog Stahmers Pressesprecherin keine Stellung. Im Hause der Schulsenatorin bezeichnte man solche Forderungen als „dumm“. „Es ist besser, Stahmer geht nicht hin, weil sie dann etwas wegen der Verletzung der Schulpflicht unternehmen müßte.“