: 30 Minuten Musik auf Krankenschein
■ Im anthroposophischen Krankenhaus Havelhöhe wird Schulmedizin durch Musik- und Maltherapie ergänzt. Musiktherapeuten spielen gemeinsam mit Krebskranken auf der Cantile und spielen auch am Sterbebett
Wie Kasernen, Mädchenpensionate oder Botschaften liegen Krankenhäuser auf exterritorialem Gebiet – die Gesetze von „draußen“ gelten nur bedingt für Patienten. Worin sich das von den Antroposophen vor anderthalb Jahren übernommene „Gemeinschaftskrankenhaus“ Havelhöhe in Kladow von anderen Krankenhäusern unterscheidet, konnten Besucher am Samstag beim Tag der offenen Tür erkunden.
Musiktherapeut Eckard Boelgen entlockt seiner Cantile, einem finnischen Zupfinstrument, einen harmonischen, warmen Klang. „Meist gehe ich zu Patienten, die täglich 30 Minuten Musik verschrieben bekommen haben. Ich habe ein Instrument, der Kranke bekommt ein anderes, auf dem er manchmal nur ein, zwei Töne anschlägt. Das Echo auf die Therapie ist durchweg positiv: Besonders Krebskranke musizieren gerne. Sie erfahren so neue Erlebnisräume, erleben Seltenes: Freude.“ Dann berührt der hochgewachsene Eckard Boelgen, der von Habitus und Erzählweise gut und gern ein Berliner Sinfoniker sein könnte, noch ein heikles Thema, das „draußen“ eher verdrängt wird: das Sterben. Boelgen spielt an den Betten Sterbender. Eine ungewöhnliche Vorstellung. Aber ist seine Musik, „ganz persönlich“ für einen einzigen Hörer gespielt, nicht ein Zeichen von Aufmerksamkeit für den Patienten, das einfach wohltun und gefallen muß?
Kindergärtnerin Heltrud L. (55) besucht zwei Bekannte, die in Havelhöhe das Krankenbett hüten. Sie selbst hatte bei ihrer Magenkrebsbehandlung in einer Steglitzer Klinik ein Horrorerlebnis: Die Frau in ihrem Zimmer schrie eine Stunde lang in seelischer Not – und keiner kam. „Eine Schwester kam dann doch – zum Bettenmachen. Sie sagte, sie sei völlig überlastet, könne auch nicht helfen. Und machte wortlos unsere Betten. „So etwas läuft hier ganz anders“, sagt die 55jährige. Und freut sich, daß ihr ein Havelhöhe-Arzt gegen ihre Nervenwurzelentzündungen am Rücken ein anthroposophisches Medikament, das Aconit-Pflanzenöl, empfohlen habe. Alles andere hat ihr bislang nicht geholfen.
Wohin als nächstes? Ein Rundgang durchs Gelände, um etwas über Rosmarin und Johanniskraut als Heilpflanzen zu erfahren? Oder zu einem Vortrag darüber, daß verbreitete seelische Ängste sowie die Single- und Ellenbogengesellschaft wesentliche Quellen für Herzkrankheiten sind? Oder sollte man bei der Initiative für den Waldorfkindergarten vorbeischauen? Es ist drückend heiß, trotzdem sind 400 Leute zum Tag der offenen Tür gekommen. Auf dem zentralen Platz des Klinikgeländes verkaufen an einem der Stände drei Patienten von Haus 5 selbstgefertigte Holzarbeiten, Tigerentchen und Puzzles. Die Entchen finden kaum Absatz, viele fragen, doch keiner kauft. Die drei gehören zu einer Wohngemeinschaft, die einen „motivierenden Drogenentzug“ macht. Michael (38), mit schwarzer Base-Cap, Schnauzer und Sonnenbrille sieht aus wie ein cooler Truckfahrer. Er hat draußen zwar tatsächlich Autos verkauft, cool ist er aber nicht, eher sensibel, unsicher und mitteilsam. „Einige von uns sind freiwillig hier, andere kommen über den Paragraphen 35, also Therapie statt Strafe. Ich war zehn Jahre clean, dann wurde ich wieder rückfällig. Heroin. So war das.“
Der mehrmonatige Entzug beginnt mit einer Woche Kontaktsperre, auch später dürfen sich die Abhängigen nur zu dritt auf dem Gelände bewegen. Wer trinkt oder fixt, fliegt raus oder muß zurück in den Knast. Herzstück der Therapie: das abendliche Rundtischgespräch, bei dem jeder seine Probleme loswerden kann. Michael und auch Frank (28), der wegen verschiedener Drogendelikte sieben Jahre im Knast saß, sind gern in Havelhöhe. Sie loben das Essen, mehr noch die vergleichsweise liberalen Spielregeln. „Ich bin heilfroh, daß ich hier bin. Das hier ist ein Schutz für uns. Schau, die meisten haben wie ich niemand, keine Freundin, nichts. Bekannte nur in der Szene, aus der wir ja wegwollen.“
Dr. Roland Bersdorf, der Klinik-Geschäftsführer, ist mit der Entwicklung von Havelhöhe zufrieden. „Die vier Stationen der Inneren Medizin sind zu 95 Prozent belegt. Patienten aus der ganzen Stadt fragen nach.“ Und er betont, niemand brauche vor Havelhöhe Angst zu haben. „Der schulmedizinische Teil der Behandlung bleibt. Wir ergänzen ihn um die seelisch- geistige Dimension, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einfach zu kurz kam.“ Bisher gibt es in Deutschland nur zwei weitere Kliniken, in denen anthroposophische Erkenntnisse die Krankenhausbehandlungen dominieren: im westfälischen Herdecke und die Filder- Klinik in Stuttgart.
Der leitende Arzt der Inneren Abteilung, Matthias Gierke, erläutert in seinem Vortrag über „Anthroposophische Medizin und Pflege“: „Wir gehen zusammen mit dem Patienten durch seine Krankheit. In der klassischen Medizin werden durch Medikamente oft Symptome nur zurückgedrängt, der Patient ist zwar beschwerdefrei, doch die Krankheit bleibt. Man kann sie aber anders behandeln.“ Im Mittelpunkt stehe der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit, eingeschlossen Seele und Individualität. Dann ein Satz von Rudolf Steiner: „Jede Medizin ist abhängig von dem Menschenbild, das ihr zugrunde liegt.“ Etwa 40 ZuhörerInnen, zumeist sind es Frauen jenseits der 50, verfolgen aufmerksam den Vortrag.
Urplötzlich kommt ein erlösender Regen. Ein zehnjähriger Junge, bandagiert am Kopf und den Arm in einer Schiene, rennt einen Besucher am Pförtnerhaus fast um, er sucht seinen Vater. Auf die Frage, was ihm Schlimmes passiert sei, winkt er nur ab. „Ich komme aus der Erste-Hilfe-Stelle. Da wird Kindern gezeigt, wie man Verbände anlegt.“ Peter Kratz
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