: Apokalyptische Revolte in Hannover
Hannover soll punkfrei bleiben, so will es die Polizei. Die Punks mobilisieren derweil per Internet für die Chaos-Tage.
Während sich ein Untersuchungsausschuß des niedersächsischen Landtages noch ein abschließendes Bild über die Chaos-Tage 1995 verschafft, bereiten sich die Akteure des hannoverschen Sommerspektakels bereits auf die nächste Runde vor. Die Polizei, die im vergangenen Jahr mit ihrem „Offensivkonzept“ einer punkerfreien Stadt am Widerstand der Bunthaarigen scheiterte, hat eine noch härtere Linie angekündigt. Als angebliche „politische Veranstaltung“ will der hannoversche Polizeipräsident die Chaos-Tage 96 diesmal von vornherein verbieten. Hannover soll punkfrei bleiben. Zu diesem Zweck hat der Landtag im Mai das verfassungsrechtlich sehr zweifelhafte Aufenthaltsverbot für Städte in das niedersächsische Polizeigesetz aufgenommen.
Die Punks haben für diese staatliche Aufrüstungen bisher allenfalls Spott und süffisante Kommentare übrig. „O Gott, wahre Erregung durchflutet meine Adern! Gibt es ein schöneres deutsches Wort als Verbot?!“ schwärmt da etwa in einem kürzlich installierten Chaos-Tage-Kanal des Internets ein Alt-Punk namens „spiritus rector“. Das Aufenthaltsverbot, die „Lex-Chaos-Tage“, erfülle jeden aufrechten Punk-Rocker mit Stolz. Hervorragend würden Staat und Polizei so das nächste Chaos managen.
Der selbsternannten Oberpunk proklamiert schon seit einigen Wochen im „Canibal home Channel“ des World Wide Web (HTTP// WWW. CYBERADO. CO. UK/ CHC/) die „apokalyptische Revolte“ in Hannover und prognostiziert eine „Explosion des Seelenmülls“. Er will Hannover vom 2. bis 4. August 96 wieder „in Schutt und Asche“ sehen. Der „spiritus rector“ stilisiert sich in seinen regelmäßigen Internet-Kommentaren zum lang gesuchten Drahtzieher der Krawallmacher, die regelmäßig zum Sommerschlußverkauf die niedersächsische Landeshauptstadt heimsuchen. Seine Internet- Biographie, die irgendein Boulevardblatt schon für bare Münze nehmen wird, paßt ins Feindbild: Ausgerechnet als einer der wenigen DDR-Punker will er seine wilden achtziger Jahre hinter sich gebracht haben und dann im Zuge von Währungsumstellung und Privatisierung zu Geld gekommen sein. Daraus sponsert der nunmehr 42jährige korpulente Oberpunk, der „die menschliche Zivilisation vernichten“ möchte, nun angeblich den ganzen Heim-Kannibalen-Kanal.
Der Kanal bedient sich eines Servers in England, informiert unter einer durchaus professionellen Benutzeroberfläche aktuell über Chaos-Neuigkeiten. Er gewährt etwa Einblick in ein umfangreiches Chaos-Tage-Archiv oder in das aktualisierte Programm einer Punker-Partei, der „Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands“ (APPD). Der „spiritus rector“ ist Cyber-Punk, Mitglied einer weltweit verstreuten anarchistischen Gruppe der Internet-Surfer. Über hundert Punk-Fanzines werden inzwischen via Internet verbreitet. Über das Netz stehen zahlreiche Punk-News-Groups in Verbindung, sind Hunderte von Punk- Rock-Adressen erreichbar.
Nicht nur für den „spiritus rector“ ist längst ausgemacht, daß am ersten Augustwochenende Punks, sympathisierende Autonome und Hooligans wieder zu Tausenden nach Hannover reisen werden. Spätestens seit den spektakulären Bildern von den Chaos-Tagen 1995 steht die Messe- und EXPO- Stadt über die deutschen Grenzen hinaus für ein preiswertes Sommerabenteuer. Das nunmehr offiziell angekündigte totale Punkerverbot fordert erneut zum Katz- und-Maus-Spiel mit der Polizei geradezu heraus. Die Chaos-Tage haben Hannover in der bunten Jugendszene einen gut-schlechten Ruf beschert, mit dem es nun wohl oder übel zu leben hat. Schließlich wächst in den letzten Jahren wieder die Zahl der Neo-Punk-Bands und auch die Zahl jener Street- Punks, die oftmals nur über eine notdürftige Bleibe verfügen.
Mit einer für die Alt-Punks typischen Mischung aus Fakten und Fiktion wird für das nächste Sommer-Chaos geworben. In der Szene kursieren „Propaganda-Videos“, in den Punk-Zeitschriften, in den Fanzines, sind die Chaos- Tage 96 längst genauso Thema wie auf Musikfestivals von Österreich bis England. Natürlich kursieren auch wieder Flugblätter, die regelrecht aufrufen: „Eine ganze Stadt hat uns ausdrücklich ausgeladen, Hannover hat 'ne Party und wir kommen nicht rein?“ heißt es etwa in einer der Einladungen, die dennoch „drei Tage Party mitten in der Einkaufszone – ein echter Genuß!“ verspricht. Diesmal fungieren die Chaos-Tage als das „größte Kriminellentreffen aller Zeiten“, das am Samstag um 12 Uhr mit „10.000 Durstigen und Hungrigen in der Innenstadt“ seinen „High Noon“ erreichen soll. „Lädt uns Mc Donald's auf 'nen Big Mac ein? Stiftet Penny das Bier?“ fragt der Aufruf hintersinnig – schließlich war das eine an den Chaos- Tagen 95 geplünderte Geschäft ein Penny-Markt.
Tips für den Umgang mit der Polizei werden dabei mitgeliefert: „Nie am Hauptbahnhof aussteigen. Zur Polizei immer auf Abstand bleiben. Nach Hannover zu fahren kann uns keiner verbieten. Wenn sie uns nicht nach Hannover reinlassen wollen, müssen sie uns alle vorläufig ,festnehmen‘. Haha, okay, dann ist es eben 'ne Party im Massenknast.“ Nach dem Motto: einmal im Jahr als ansonsten ausgegrenzter Bunthaariger im Mittelpunkt stehen, einmal die Schlagzeilen und Fernsehnachrichten selbst machen, verspricht das Flugblatt auch ein Medienereignis: „Niemand weiß, was passiert, die Spannung ist groß, die Liveübertragung von RTL und CNN aber schon vorbereitet.“ Mit „sensationsgeilen“ Sendern und Blättern verbindet die abenteuerhungrigen Punks traditionell eine Art Haßliebe: Die ungeheuren Übertreibungen der Chaosberichterstattung werden genauso öffentlich verurteilt wie heimlich genossen. Schließlich sorgen gerade Medien, die großmäulige „Schutt und Asche“-Sprüche bierernst nehmen, selbst für den Kitzel und steigern noch mal den Zulauf zum Chaos.
Bitterernst muß man allerdings einen Punker-Aufruf nehmen, der sich ausnahmsweise dem Ordnungsgedanken verschreibt. „Punx gegen Chaos“ ist er überschrieben und ruft zu „Ordnungstagen statt Chaos-Tagen“ auf – natürlich auch am ersten Augustwochenende in Hannover. Punk sei in erster Linie Musik und kein Krawall. „Laßt uns doch einfach unseren Spaß haben“, verlangt das Flugblatt und versichert: „Wir wollen keinen Ärger. Wir haben aus den Schlachten von Hannover gelernt, werden sofort einschreiten, wenn das Chaos ausbricht.“ Sogar Armbinden mit der Aufschrift: „Für Ordnung gegen Chaos“ wollen die Ordnungspunker bei der Anreise nach Hannover tragen, damit die Polizei „friedliche Punks von kriminellen Chaoten“ unterscheiden kann.
Gerade diese Unterscheidung wollen die Ordnungskräfte allerdings nicht machen. „Die Verbotsverfügung wird sich auch gegen Parallelveranstaltungen richten“, gibt die Polizeipressestelle zur Auskunft. Geplant sei eine Allgemeinverfügung gegen alle Veranstaltungen, die irgendeinen Bezug zu den Chaos-Tagen hätten. Der hannoversche Polizeipräsident Klosa will Anfang August die Punker sogar schon vor der Anreise in ihren Heimatorten festnehmen lassen, „wie wir das mit PKK-Sympathisanten gemacht haben, die zur verbotenen Demonstration nach Dortmund wollten“.
Für einen solchen Ausnahmezustand für Bunthaarige gibt es rechtlich allerdings kaum eine Handhabe. Treffen von Jugendlichen fallen nicht unter das Versammlungsgesetz, lassen sich deswegen eigentlich auch nicht verbieten. Mit der Begründung, an den Chaos-Tagen 95 hätten „auch politische orientierte“ Jugendliche teilgenommen, erklärt die Polizei deswegen das diesjährige Punkertreffen kurzerhand zur politischen Veranstaltung.
Mit dieser scheinbaren „polizeilichen Lösung“ sind allerdings Chaos und Krawall erst recht programmiert. Das meint zumindest die Innenpolitikerin der Landtagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen, Silke Stokar: „Da verfährt man nach dem schlimmen Grundsatz, daß für das bunte Pack die Regeln des Rechtsstaates, die für Menschen gemachten Gesetze nicht gelten.“ Nach Ansicht der Grünen-Abgeordneten werden „die bunthaarigen Jugendlichen dies nur als sportliche Herausforderung empfinden und kreativ Mittel und Wege finden, um doch nach Hannover zu gelangen“. Jürgen Voges
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