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Angstfrei Schweben

■ Premiere von Anton Tschechows „Onkel Wanja“, inszeniert von Jürgen Flimm, im Thalia Theater

„Never change a winning team“, mag sich Thalia-Chef Jürgen Flimm nach dem Überraschungserfolg mit der Wildente gedacht haben. Drum scharte er seine Getreuen wieder um sich, um mit Tschechows Onkel Wanja ein zweites Mal das Glück herauszufordern: Erich Wonder (Bühne) und Flo-rence von Gerkan (Kostüme) zur Seite und die drei großen Herren im Thalia-Ensemble Will Quadflieg, Hans Christian Rudolph und Ignaz Kirchner fürs Spiel.

Das geht sich auch ganz gut an: Das zynische Gehechel des verletzten Neiders Wanja (Rudolph) über den gedankenlosen Schmarotzer im Ruhestand Alexander Serebrjakow (Quadflieg) und die in ironische Weltverachtung verpackte Sehnsucht des Arztes Astrow (Kirchner) umkreisen das Schicksalspaar aus Begehren und Langeweile, das allen Akteuren zum Verhängnis wird, anfänglich mit Leichtigkeit und Schalk. Der Eintritt des Objektes der gemeinsamen Begierde, der jungen Professoren-Gattin Elena (Sandra Flubacher), deren philosophierende Mutlosigkeit die eigene Lust unterdrückt und die der Männer in den Panzer der Männlichkeit verweist, unterbricht Flimms Inventur des Humors in Tschechows Drama nicht. Ihr Verweilen macht dieser nur ganz langsam ein Ende.

Mit derselben Sachtheit versenkt Flimm auch die Geschichten der Unglücklichen in schulmeisterlich naturalistischem Erzählen. Die von Tschechow beschriebene Eindimensionalität von Selbstverleugnung und Langeweile, die es verhindert, daß man Alternativen erkennt, solange sie noch vital sind, befällt auch zunehmend die Inszenierung. Tschechows Atmosphäre schleicht sich ein in den Rhythmus des Erzählens, und die perfekte Stimmigkeit der Charaktere auf dem leeren Tableau einer scheußlich-nichtssagenden Bühne kanalisiert die Konflikte in ordentliche Bahnen. So kann es also gewesen sein, so zäh, so zermürbend, so deprimierend, das Aufeinandertreffen von unterschätzter Land- und überschätzter Stadtbevölkerung im mäßigen Reichtum eines russischen Landgutes. Und so sauber gefugt und verspachtelt erscheint dieses Gebäude aus Selbstbetrug, Feigheit, Verzweiflung und Selbstabtötung wie vom katholischen Schicksal selbst erbaut.

Keine überraschenden Eingriffe oder Deutungen von Konflikten im Kontext eines Lebens des Jahres 1995 belasten die Auferstehung einer versunkenen Epoche. Transponiert wird die Tonart der Gefühle nur soweit, daß sie in unseren Seelen wohl erklingt und vergessen läßt, daß hundert Jahre Geschichte geschehen sind. Laßt sie reden wie heute und fühlen wie einst. Mit der Hilfe von einfühlsamen Schauspielern (insbesondere der besten Annette Paulmann, die man seit langer Zeit gesehen hat, als Sonja) gelingt das bravourös.

Die Verzweiflung zur geschmackvollen Betrachtung freigegeben verliert zwar so die Strenge der gemeinsam erlebten Angst, gewinnt aber dafür die reizende Leichtigkeit des lasziven Schwebens über dem Schmutz echter Gefühle. Was dann vom Theater übrig bleibt, ist beeindruckendes Handwerk. Till Briegleb

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