„Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht“

■ Barsbüttel: Auf der größten bebauten Mülldeponie Deutschlands sollen bald wieder Menschen wohnen Die Sanierung läßt jedoch viele Fragen offen / Spekulationsobjekt für Immobiliendealer? Von Eike Ina Suhr

Die Entgasungsanlagen sind noch nicht vollständig installiert, schon sollen die ersten Häuser am Rand des fast 111.000 Quadratmeter großen Geländes in Barsbüttel am östlichen Stadtrand Hamburgs verkauft werden. Sie stehen seit Ende der 80er Jahre leer, seit der Absiedelung der BewohnerInnen von der Deponie 78, der größten bebauten Müllgrube Deutschlands. Das Kieler Umweltministerium hat grünes Licht für den Verkauf gegeben: Die „Zielwerte“ für die Entgasung seien erreicht, heißt es.

Umweltschützer hingegen kritisieren die Eile, mit der vorgegangen wird. „Der Erlös diktiert das Verfahren“, sagt Joachim Germer, Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Stormarner Kreistag und Barsbüttler Bürger. Und: „Man saniert die Häuser auf Kosten des Grundwassers.“

Der Startschuß für den Verkauf fällt – später als ursprünglich geplant – im ersten Quartal 1995. Dann sollen die Muster-Kaufverträge fertig sein, die das Kieler Finanzministerium zur Zeit mit der „Schleswig-Holsteinischen Landgesellschaft“ (SHL) erarbeitet. Die SHL verwaltet die 166 Wohneinheiten treuhänderisch für die Landesregierung. Nach jahrelangem Hin und Her hatte das damals noch von Uwe Barschel geführte Kabinett 1987 den Bewohnern der Deponie zugesagt, ihnen die Eigenheime und Wohnungen abzukaufen. Der Verkauf der Wohneinheiten soll knapp die Hälfte der Kosten wieder hereinbringen, die das Land für die Absiedelung der Barsbüttler aufbringen mußte: 100 Millionen Mark ließ Kiel damals springen, 40 bis 50 Millionen will man jetzt erwirtschaften. Nach Auskunft von Klaus Kramer, Sprecher des Kieler Finanzministeriums, wird das Land auf eigene Kosten die Schäden beheben, die durch die Entgasung noch entstehen. Wann die Häuser bezogen werden können, hänge außerdem davon ab, wie schnell Wasserwerk, Gas- und Stromunternehmen mit dem Verlegen der Leitungen fertig sind.

Zur Zeit wirkt das umzäunte Gelände am Ellerhoop wie eine Geisterstadt: Unkraut überwuchert die Reste von plattenbelegten Gehwegen. Kurze Treppenaufgänge zu den Haustüren einiger Gebäude stehen schief, weil der Boden durch die forcierte Entgasung stellenweise weiter abgesackt ist. Violette Graffitis zieren die ehemals weißen Wände der Bungalows. Die meisten Gärten fehlen: Die oberen 50 Zentimeter des Erdbodens wurden abgetragen.

Bis zum April 1995 soll der vierte und letzte Bauabschnitt beendet sein. Dann stehen 85 Gasabsaug-Brunnen und 162 Beobachtungs-Meßstellen zwischen den unbewohnten Häusern. Wenn die Entgasung ab Frühjahr 1995 auf vollen Touren läuft, sollen die ersten Gebäude am Rand der Ex-Deponie ihren Besitzer bereits gewechselt haben. Das Umweltministerium ist mit dem Sanierungsverlauf zufrieden: „Der Zielwert von 0,5 Volumenprozent Methankonzentration ist nicht an allen, aber an vielen Meßstellen erreicht worden. Es besteht keine Explosionsgefahr mehr“, bestätigt Pressesprecher Wolfgang Götze. Die sei erst bei zehnfach höherer Konzentration gegeben: Fünf Volumenprozent müßten es schon sein. Die Werte hat Dr. Kruse vom Institut für Toxikologie der Universität Kiel entwickelt. Die Mitarbeiter des renommierten Leiters dieses Institutes, Professor Otmar Wassermann, führten – so Götze – auch „diverse Untersuchungen des Bodens“ durch. Ergebnis: „In den freigegebenen Gebieten konnte keine akute Belastung abgeleitet werden.“ Die Bodenschicht über dem Müll muß mindestens einen Meter dick sein. „Ist es weniger, so wird ausgetauscht“, versichert Götze.

An solchen Stellen soll zunächst eine 50 bis 60 Zentimeter dicke, garantiert unbelastete Mineralbodenschicht aus einem Kieswerk in Schleswig-Holstein geschüttet werden, darüber kommt Mutterboden. Für den Anbau von Erbsen und Möhren mag das ausreichen, doch was ist, wenn man Obstbäume pflanzen möchte, deren Wurzeln weiter als einen Meter in die Tiefe reichen? Werden mit den Nähr- auch Schadstoffe an die Oberfläche geholt?Kann man die Früchte unbedenklich genießen?

“Bei Obstbäumen konnte bislang kein Schadstoff-Transfer festgestellt werden“, sagt Dr. Dorit Kuhnt, Referentin für Altlasten im Kieler Umweltministerium. Rein theoretisch sei es zwar möglich, daß sich auf diesem Wege Schadstoffe im Oberboden ansammelten – aber dann hätte man heute schon in den oberen Schichten höhere Gift-Konzentrationen finden müssen. Außerdem liege unter dem sauberen Boden nicht ausschließlich Müll, sondern ein Gemisch aus Abfällen und Erdreich. Der Oberboden – das sind die oberen zehn Zentimeter – sei ebenfalls untersucht worden. „Die vorgefundenen Werte entsprechen den typischen Werten der Gebiete am Hamburger Rand“, sagt Umwelt-Sprecher Götze. Das Erdreich sei durch Schadstoffe aus der Luft, von der Autobahn und aus den Industrie-Schloten wenige Kilometer westlich stärker belastet als Erde in ländlichen Gebieten.

Der grüne Politiker Joachim Germer, seit April 1994 im Kreistag und zuvor acht Jahre lang in der Barsbüttler Gemeindevertretung, kritisiert das Vorgehen der Landesregierung: „Der Erlös diktiert das Verfahren, und im Nachhinein wird eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt.“ Es reiche nicht aus, alles an der Methan-Konzentration festzumachen. „Methan ist Trägersubstanz für krebserregende Stoffe; es ist notwendig, daß das gesamte Methan abgesaugt wird, bevor die Besiedlung losgeht“, fordert er. Besonders schlimm findet Germer es, daß die Deponie 78 nach wie vor als „Hausmülldeponie“ verharmlost werde. „Es ist eine Deponie, die noch aus der Zeit stammt, als es keine Sondermüll-Deponien gab“. Hier kippten Chemie-Firmen das gleiche Zeug ab wie in Georgswerder, bevor jene Deponie geschlossen wurde. Keiner weiß, ob die Fässer inzwischen durchgerottet sind.

Mehr als die Bedrohung für die künftigen BewohnerInnen der Deponie 78 durch eventuell noch austretende Gase fürchtet der Kommunalpolitiker die Gefahren, die dem Grundwasser durch die Altablagerungen drohen: „Normalerweise müßte das gesamte Gelände durch eine wasserundurchlässige Schicht abgedeckt werden, damit kein Regenwasser einsickert.“ Die Feuchtigkeit könne organische Reaktionen hervorrufen, Schadstoffe aus dem Müll auswaschen und damit das Grundwasser verunreinigen. „Wenn das Gebiet unbebaut wäre, würde man es sicherlich großflächig abgedeckt haben“, vermutet Germer. „Aber es stehen ja wertvolle Häuser drauf, und das Geschäft will man sich nicht entgehen lassen.“

Altlasten-Expertin Kuhnt gibt hingegen Entwarnung: „Der Deponiekörper liegt nicht im Grundwasserleiter, sondern ist durch eine wasser-undurchlässige Tonschicht vom Grundwasser getrennt.“ Was in die Deponie hinein- und hinten wieder herausfließe, werde regelmäßig gemessen. „Solange hinter der Deponie nichts festgestellt wird, ist das Grundwasser nicht gefährdet.“ Zuständig für diese Messungen ist die Wasserbehörde des Kreises Stormarn, die zweimal pro Jahr die Werte überprüft. Dort sieht man zwar Beobachtungs-, aber keinen Handlungsbedarf. Germer beruhigt diese Auskunft nicht: „Die Tonschicht ist in dieser Gegend von ,Fenstern' durchlöchert. Und nur wenige Kilometer entfernt liegt das Trinkwasserwerk Glinde.“

Umwelt-Sprecher Götze hält solche Argumente für haarspalterisch: „Hundertprozentige Sicherheit kann es in dieser Angelegenheit nicht geben.“ Und Kuhnt assistiert: „Das Wohnen dort war immer unbedenklich. Abgesiedelt wurden die Familien, die sich subjektiv in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt fühlten.“

Die Entgasung soll weitergehen, solange das Faulgas Methan produziert wird. Schrittweise wird der Maschendraht-Zaun abgebaut und das Gebiet freigegeben. Joachim Germer vermutet, daß die Häuser nicht von den Eigentümern bewohnt werden würden. „Das ist doch ein prima Geschäft: Billig ein Haus kaufen, und es dann zu normalen, ortsüblichen Preisen vermieten. Die Angeschmierten sind die Mieter.“ Wolfgang Götze ficht das nicht an: „Ich würde mir dort sofort ein Haus kaufen.“