■ Querspalte: Rache an Dagobert
Die Grenzen dessen, was als moralisch verwerflich gilt, sind durchlässig. Das moralische Urteil über Gesetzesbrecher entspricht nicht dem Strafmaß, das sie zu erwarten haben. Das Rachebedürfnis der Gesellschaft (oder besser der Medien) ist ein anderes als das der Justiz. Justiz ist immer noch (oder auch) Klassenjustiz. Nicht nur auf dem Gebiet der legalen Bereicherung sind die Möglichkeiten der besitzlosen Klasse eingeschränkt. „Wenn ich in der Wirtschaft gewesen wäre, hätte ich ein Wirtschaftsdelikt begangen“, sagte Arno Funke, besser bekannt als „Dagobert“, während der Neuverhandlungen vor dem Berliner Landgericht. „So aber war die Kaufhauserpressung das einzige, was ich machen konnte.“
Er machte es gut. Während er durch seine legale Arbeit als Lackierer ganz legale Gesundheitsschäden davontrug, gelang es ihm in seinen „Verbrechen“ umsichtig, seinen Erpresserbriefen Nachdruck zu verleihen und dennoch niemanden zu verletzen. Gleichzeitig verbrecherte er so künstlerisch wie kaum ein anderer. Anders als viele Künstler und Schriftsteller, deren Taten sich allzusehr von den Alltagskonflikten entfernen, reflektierte er feinsinnig aktuelle gesellschaftliche Konflikte: Angeblich vor der schwedischen Küste geortete U-Boote inspirierten ihn zum U-Bootbau. Während der Bundeskanzler die Berliner Neue Wache mit einer Kollwitz-Plastik bestückte, bestellte er die Geldboten in den IC „Käthe Kollwitz“. Als die Medien die Nazi-Untergrundbunker entdeckten, operierte Funke von der Kanalisation aus.
Seine verzweifelten und doch souveränen Versuche, zu Geld zu kommen, hatten gesellschaftlichen Wert. Die Medien verdienten sich an Arno Funke dumm und dämlich, der eine oder andere Arbeitsplatz wird ihm zu verdanken sein. Und deliktanfällige Jugendliche diskutierten über Dagobert, anstatt krumme Dinger zu drehen.
Sein kurzer Ruhm wurde ihm zum Verhängnis. Aus Rache wurde Funkes Strafmaß gestern auf neun Jahre heraufgesetzt. Komisch ist das nicht. Detlef Kuhlbrodt
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