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Wir könnten auch anders

■ Wo Stargäste im Frotteeschlafanzug jazzwandeln - die "JazzBaltica", auf dem Gutshof Salzau veranstaltet, geriet im sechsten Sommer wieder sehr intim

Wer sich mit einem pistazienfarbenen Leihwagen auf den Weg in den Norden macht, um ein irgendwo zwischen Plöner Seenplatte und Ostsee verstecktes Jazzfestival aufzusuchen, gerät unweigerlich ins Philosophieren: Was ist das für ein merkwürdiges Land, wo die Dörfer Namen tragen wie Altenkrempe, Schönböcken, Negernbötel, Schwiddeldei, Kalübbe, Zarnekau, Övelgönne, Griesenbötel? Was soll man halten von jenem einheimischen Eigenbrödlertum, das in beunruhigender Regelmäßigkeit so ungeschliffene Gestalten wie Detlev Buck, Ernst Kahl, Schorsch Kamerun und Rocko Schamoni an die Asphaltstrände unserer Zivilisation spült?

Von den Strömen der Weltgeschichte zeigt man sich in Schleswig-Holstein seit jeher unbeeindruckt: Wohl nirgendwo anders in der Welt hat man den Fall des kommunistischen Imperiums so gelassen zur Kenntnis genommen wie zwischen Husum und Lütjenburg. Statt gleich den Nordatlantikpakt auf Osteuropa ausgedehnen zu wollen, hob die Landesregierung vor genau sechs Jahren in der Abgeschiedenheit des Gutshofes Salzau ein kleines Jazzfestival aus dem Taufbecken, die „JazzBaltica“. Eine umgebaute Scheune mit 500 Sitzplätzen sollte zur alljährlichen Begegnungsstätte für Jazz rund um die Ostsee, ja gar zum Zentrum einer neuen, kulturpolitischen Hanse werden. Da es der gutgemeinten Kopfgeburt jedoch an Publikum mangelte, gab man die regionale Beschränkung auf und internationalisierte das Festival gänzlich.

Das ist sicherlich gut so, denn so eröffnete sich den Zuschauern die ganze Bandbreite des zeitgenössischen Jazz. Die neo-traditionalistische Schule wurde repräsentiert durch den Marsalis-Schüler Roy Hargrove. Tatsächlich beinhaltete der Auftritt des jungen Trompeters alles, was sich unter dem Marsalis-Faktor zusammenfassen läßt: die strikte Selbstbeherrschung im Spiel, die tiefe Verbeugung vor den alten Meistern sowie exponiert gute Manieren – für das unverblühmte Holsteiner Publikum natürlich nur als Arroganz auszulegen.

Vielleicht liegt hier eine Erklärung für den Neotraditionalismus der 90er Jahre: Es müssen keine Tabus mehr gebrochen, keine Grenzen überwunden werden, um zu provozieren. Statt dessen wird dem Zuhörer eine viel größere Strapaze abverlangt, indem er die ungeheure Spannung aushalten muß zwischen Möglichem und bewußt nicht Zugelassenem. Jedes Zerren im werkgetreuen Trompetenton wird so zur Herausforderung, zur Warnung an das Publikum: Wir könnten auch anders.

Der Trend zur Retrospektive hat längst auch den europäischen Jazz erreicht. So erlebte die „JazzBaltica“ sogar eine spektakuläre Reunion: Charlie Mariano, Jasper van't Hof und Philip Catherine ließen Pork Pie wieder auferstehen, die Band, die Mitte der Siebziger den europäischen Jazzrock begründete. Auch im Duo mit dem Bassisten Niels-Henning Orsted Pedersen kehrte Philip Catherine wieder ganz zu den Wurzeln zurück, seinen Reinhardschen Lieblingsstandards.

Selbst Gunter Hampel, das Urgestein des deutschen Freejazz, gab sich dafür her, unter dem Namen „Acid Jazz" den Soul und Funk der sechziger Jahre kommerziell zu recyceln. Er fungiert als „authentisches" Feigenblatt beim Projekt Jazzkantine, wo, nicht ganz neuartig, Rap mit Jazz verbunden wird. Geschmeichelt vom Erfolg der Band bei der Jugend, trug Hampel prompt die Schirmmütze verkehrt herum und die Jogginghose unterhalb der Hüfte: „Der Jazz war im elfenbeinernen Turm verschwunden, ihm fehlte der Groove und Funk", monierte er, „Jazzkantine bringt die Jazzmusik wieder an eine neue Generation."

Tatsächlich standen schon am Vormittag weibliche Teenager Schlange, um ihre rappenden Idole während der Proben abzufangen. Das Konzert am Abend dann rappeldicke voll, es wurde getanzt und mitgesungen, auch die „echten" Jazzer Randy Brecker und Nils Landgren, die solistische Einlagen geben dürfen, wurden frenetisch beklatscht. Doch bei all dem missionarischen Eifer stellt sich die Frage, ob man den Opportunismus so weit treiben darf, „Take Five" im 4/4-Takt zu spielen.

Als unangefochtener Star des Festivals erschien am zweiten Tag Michel Petrucciani. Als sein Auftritt nahte, schwirrten mit einem Mal dynamische Fernsehreporterinnen umher und die Kontrolle an den Eingängen wurde verstärkt. Der kleinwüchsige Pianist, jedem bekannt durch Roger Willemsens Talkshow, spielte einen knappen und überzeugenden Set mit seinem ZDF-Trio, ermahnte väterlich die Kinder am Bühnenrand, nicht so laut zu tuscheln und verschwand wieder so plötzlich, wie er gekommen war.

Damit entging ihm der interessanteste Teil des Festivals: Des Nachts, als die Pendler aus Kiel bereits heimgefahren waren, trafen sich die Musiker noch einmal im Herrenhaus, um vor dem hartgesottenen Teil des Publikums miteinander zu jammen. Roy Hargrove erwies sich hier als unermüdlich: Er holte Philip Catherine aus dem Bett, der prompt im Frotteeschlafanzug die Bühne betrat – in der einen Hand Zigaretten, in der anderen ein Glas Milch. Bis zum frühen Morgengrauen spielten Hargrove und seine Band mit wechselnden Gästen. Hier zeigte sich die eigentliche Stärke der „JazzBaltica": ihre Intimität. Noäl Rademacher

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