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Von Gringo-Land nach Nicaragua

Das mittelamerikanische Costa Rica ist Touristenland für Ökos und solche, die grüne Exotik lieben. Das Nachbarland Nicaragua ist allenfalls einen Tagesausflug wert. Ein Grenzgang mit dem Boot über den Rio Frio  ■ Von Roswitha von Benda

Es ist fünf Uhr früh und noch stockfinster auf dem Coca-Cola- Busbahnhof in San José. Die Busfahrer brüllen den Reisenden ihr Fahrziel entgegen, als könnte man sich aussuchen, wohin man fahren möchte.

Die Menschen, die den Bus nach Los Chiles, Grenzort zu Nicaragua, besteigen, verschanzen sich hinter verschlossener Miene. Nur der Mann mit deutlich indigener Abstammung, in frischgebügelter Hose und weißem, besticktem Hemd, lächelt vor sich hin. Eine alte Frau, die grauen Haare nach hinten zusammengebunden, den Wollumhang fröstelnd um die Schulter gezogen, setzt sich neben mich. Als der Mann im weißen Hemd seine Zeitung aufschlägt, kommentiert sie lautstark die Schlagzeilen und weist alle dort genannten Verbrechen den „Nicas“ zu. „Alles Übel kommt vom Norden“, womit sie Nicaragua meint, und sie hört nicht mehr auf, den ungeliebten Nicas immer neue Prädikate zu verleihen; ladrones – Diebe – ist noch das mildeste.

Sie waren sich nie grün, die Nicas und die Ticos. Seit der Revolution in Nicaragua haben die Ticos Angst um den eigenen sozialen Frieden. Und all die arbeitslosen Contras, die man vom eigenen Boden aus Krieg gegen die Sandinisten führen ließ und die nun weiterhin Costa Rica als Operationsbasis für den eigenen Überlebenskampf nutzen, sie wird man nicht mehr los. Überfälle auf Touristenbusse, die Entführung einer Deutschen und einer Schweizerin – Schagzeilen, die der Regierung angst und bange machen, denn der Tourismus wurde zu einer wichtigen Einnahmequelle. 761.000 BesucherInnen kamen im vergangenen Jahr, darunter 40.000 aus Deutschland. „Ist Costa Rica noch ein sicheres Land?“ fragt eine Tageszeitung.

Für die Nicas ist Costa Rica Gringo-Land, die Kultur, vom Essen bis zur Musik, allzu amerikanisch geprägt.

Die eigentlichen Herrscher Costa Ricas sind omnipräsent. Auch uns begegnen an diesem Morgen die riesigen Trucks der United Fruit Company, der Bananen- Multis, auf dem Weg zu den Containerterminals an der Karibikküste.

Der Bus fährt durch die reichen Vororte von San José. „Rohrmoser“ heißt das schickste Viertel, benannt nach dem deutschen Kaffeeproduzenten. Ob Plantagenbesitzer oder Hotelunternehmer, sie kommen fast alle aus dem Ausland, der Steuerfreiheit wegen. Ob der neue Fußballtrainer auch aus dem Ausland kommen soll, wollte eine Fernsehgesellschaft vom Volk entscheiden lassen.

„Zu viele Ausländer bestimmen schon über unser Leben“, glaubt auch die Frau neben mir, deren Sohn in einer zona franca arbeitet; sein Boß ist Koreaner. Überall in Mittelamerika sprießen Freihandelszonen aus dem Boden, in denen Großkonzerne zu Niedrigstlöhnen Halbfertigprodukte herstellen. Die Billigkräfte kommen meist aus Nicaragua.

In Ciudad Quesada, Verkehrsknotenpunkt in Richtung Norden, wird eine zehnminütige Pause angekündigt. Draußen bieten Kioske und sodas entlang der Straße Fruchtsäfte und Snacks an. Für den Busfahrer ein kleines Nebeneinkommen. Er kassiert bei jedem Stop Provisionen.

Der Mann indigener Abstammung setzt sich neben mich. Er ist Priester auf dem Heimweg nach Nicaragua. Wir fahren durch fruchtbares Weideland, Rinderherden grasen auf gerodetem Bergland. Um weitere Kahlschläge zu verhindern, werden immer mehr Waldgebiete zu Nationalparks erklärt. Dreieinhalb Millionen Rinder werden auf Costa Ricas grünen Wiesen für die Fleischklopsketten der US-Konzerne gemästet, ebenso viele Menschen leben im reichsten Land Mittelamerikas, in dem 120.000 Kinder nur von Hamburgern [alp-, d.s-in] träumen können.

Von der kühlen Hochebene geht es langsam hinab in den flachen tropischen Norden, die Weiden werden abgelöst von akkurat aufgereihten Orangenplantagen.

Der Norden ist nicht nur klimatisch ein heißes Gebiet, sondern auch politisch. In der Nähe des Grenzflusses Rio San Juan waren die Entführer mit ihren Geiseln untergetaucht. Der Bus reagiert auf jeden winkenden Passagier am Straßenrand. Grenzbeamte steigen in den Bus und kontrollieren die Papiere der Reisenden. Kurz vor Los Chiles baut sich ein Jeep vor dem Bus auf. Der Nachbar läßt flink etwas in den Schuh gleiten. Costa Rica rühmt sich, der einzige Staat Amerikas ohne Armee zu sein. Doch dafür wimmelt es von paramilitärischen Trupps mit abenteuerlichem Outfit. Dieser Trupp trägt ausrangierte US-Uniformen und modernste Maschinengewehre. Doch auch sie wollen nur die Papiere sehen.

In Los Chiles ist Endstation, zugleich Ende der Fahnenstange. Nach Nicaragua geht es nur auf dem Flußweg weiter. Ich schließe mich dem Priester an, er kennt den Weg zum Fluß und zur Grenzstation. „Si Dios quierre“ – so Gott will –, „wird am Nachmittag noch ein Boot rüberfahren“, sagt der Priester, der am Fluß unter dem dürftigen Schatten einer Akazie auf seinem Koffer sitzt. Es ist höllisch heiß am Rio Frio – dem kalten Fluß. Der Schweiß brennt in den Augen und nirgends ein soda. Ein uralter Schrottkahn kommt angetuckert. Doch dem Bootsmann sind wir zu wenige Passagiere. Zwölf Menschen faßt der Kahn, zwanzig bringen ihm erst Gewinn ein. Wir warten weiter.

Die Polizei bringt eine Familie zum Boot. Abgeschobene. Sie hatten versucht, sich ohne Papiere nach Costa Rica durchzuschlagen und auf irgendeiner Plantage Arbeit zu finden. Sie haben kein Geld, die Überfahrt zu bezahlen. Der Priester sammelt für die Unglücklichen. Der Bootsmann flucht, immer bringen ihm diese Illegalen Ärger ein. Nein, Krokodile gebe es nicht im Rio Frio, zu kalt sei das Wasser, meint der Bootsmann, dafür sei es hier im Krieg heiß hergegangen. Da hätten die Contras (von den USA unterstützt und von Costa Rica geduldet) von hier aus operiert. „Die haben auf alles im Fluß geschossen, was sich bewegte“, sagt er, „der ist voller Leichen, der Fluß.“ Uns läuft ein kalter Schauder über den Rücken.

Heute sitzen nur Affen und Riesenvögel oben auf den Wipfeln der Urwaldriesen und beobachten den träge dahinfließenden Fluß und alles, was sich auf ihm bewegt. Ab und zu läßt sich einer der großen schwarzen Vögel auf den tief in den Fluß hineinwachsenden Mangroven nieder, um uns aus der Nähe zu betrachten.

Kurz nach dem Grenzstein dreht das Boot bei. Ein Mann in Zivil sammelt die Papiere ein und klettert einen Abhang hinauf. Dort oben hat hat der Grenzbeamte ein Sonnensegel und seinen Schreibtisch aufgestellt.

Nicaragua. Wir passieren dürftig zusammengezimmerte Hütten, vor denen Männer hocken, die Angel in den Fluß gehängt. Kinder schaukeln in Hängematten.

„Ohne Wasser- und Stromanschluß“, sagt der Priester. „Und die Kinder? Längst haben die Eltern es aufgegeben, sie zur Schule zu schicken. Wozu, sagen sie sich, sie bekommen ohnehin keine Arbeit. Armut macht träge.“

Laut Angaben unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler leben 70 Prozent der 4,1 Millionen EinwohnerInnen Nicaraguas in Armut; 60 Prozent sind ohne Arbeit. Laut konservativer Regierung der Violeta Chamorra sind es nur 18 Prozent. Sie wirbt um ausländische Investoren. Die Lebensqualität will sie deutlich erhöhen, sollte sie die Wahlen im Oktober wieder für sich gewinnen. Die Sandinisten dagegen wollen sich dafür einsetzen, daß auch weiterhin 70 Prozent der BewohneInnen Nicaraguas den Boden und die Wirtschaft des Landes kontrollieren.

Der Fluß mündet in den Nicaraguasee, den größten See Mittelamerikas. San Carlos, zwischen den Mündungen des Rio Frio und des Rio San Juan gelegen, wirkt von weitem mit seinen eng ineinandergeschachtelten Holz- und Wellblechhütten wie ein einziges Slumgebiet. Die Anlegestelle: ein paar lose über Eisenträger gelegte Bretter. Die drei Stufen zur Straße brechen unter dem Gewicht des Vordermannes zusammen. Wir restlichen Passagiere werden in einem Parforceakt nach oben gehievt. Oben an der Straße winkt ein ausgemergelter Typ mit einem Bund Goldscheinen. Hier nennt man sie Córdobas. „Change money?“

Tropenregen setzt ein. Der Priester versinkt mit seinem Gepäck im Schlamm der ungepflasterten Straße.

Wir retten uns in das hochgelegene einzige Restaurant von San Carlos mit Blick über den endlos weiten See. Der Priester deutet auf eine Insel im See. „Dort hatte Ernesto Cardenal seine Operationsbasis.“ Drei mickrige Kanonen, auf das andere Ufer des Sees gerichtet, erinnern an den amerikanischen Freibeuter Walker, der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz Mittelamerika versklaven wollte. Ein Reiseleiter aus Costa Rica erklärt es seiner Gruppe, die mit Strohhalmen aus Flaschen Cola saugt, was den Priester empört „bei all dem Überfluß an Früchten, die wir im eigenen Lande haben“. Der Tico-Reiseleiter führt seine Touristen durch ein kaputtes Land, und fast meint man Schadenfreude aus seinen Erklärungen herauszuhören. „Um ein besseres Leben hat man hier gekämpft. Doch nie war das Elend größer.“

Im Haus der Sandinistas erwartet mich Luisa. Sie betreut Frauenprojekte. Aufklärungsarbeit nennt sie die wichtigste Aufgabe. Die Frauen auf dem Land zu überzeugen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, und zur Hygiene zu erziehen. Noch immer gibt es Familien auf dem Land, die ihren Wohnraum mit Schweinen und Hühnern teilen. An den Häusermauern von San Carlos warnen Plakate vor der Cholera. Doch das empfohlene Händewaschen ist problematisch: Ab neun Uhr gibt es kein Leitungswasser mehr. Viele der Frauen und auch manch ein Mann nutzen das öffentliche Waschbecken nicht nur zum Wäschewaschen, sondern auch zur gründlichen Körperpflege.

Wir besuchen Luisas Freundin Martha, die gerade im Krankenhaus von San Carlos mit Hilfe kubanischer Ärzte ihr zweites Kind geboren hat. Das Krankenhaus selbst wurde unter Mithilfe der österreichischen Stadt Linz gebaut. Linz, Nürnberg, deutsche Gewerkschaften und Hochschulgemeinden, Schweden, Holländer – von überall kam und kommt immer noch Hilfe, und in San Carlos ist man es gewohnt, täglich engagierte Ausländer um sich zu haben. „San Carlos ist das Patenkind der halben Welt“, lacht die Señora Amanda, die Mutter von Martha. Vom Schaukelstuhl aus überblickt sie den kleinen Laden, den sie sich mit einem Kleinkredit aus Spendengeldern aufgebaut hat. Sie verkauft dort alles, was ein bißchen Geld bringt, von Sardinen bis zu Luftpostkuverts. Es sind in erster Linie die Frauen, die mit kleinen Lädchen die Familie über Wasser zu halten versuchen. Männer treffen wir in der Nähe des Hafens unter einem kahlen Baum, dessen Zweige mit geleerten Schnaps- und Bierflaschen behängt sind.

„Da hängt ihre Würde am Baum“, sagt die Frau nebenan, die Blechtöpfe verkauft. Recht und schlecht lebt sie davon. „Manchmal“, sagt sie, „da kommen die Ticos rüber, weil hier alles viel billiger ist, dann läuft das Geschäft ziemlich gut.“ Ausländer sind immer willkommen in San Carlos, und man nimmt sie bereitwillig im bescheidenen Zuhause auf, auch seit im einzigen Hotel, „Hotel Rio San Juan“, die Drogen Einzug gehalten haben.

Am nächsten Tag hat sich schon früh am Morgen eine lange Schlange vor der Grenzabfertigung gebildet. Jeder Nica, der nach Costa Rica reist, muß sich registrieren lassen. Die Statistik verlangt es. Nur die wenigsten kehren von dem beantragten Kurzaufenthalt auf der anderen Seite zurück; die Grenzbeamten wissen das. Drüben dann in Los Chiles, kurz vor der Paßkontrolle, ziehen sich die Arbeitsmigranten die besseren Sachen an, um bei den Ticos einen guten Eindruck zu machen.

Am Rio Frio legt ein Boot voller Touristen ab, die für einen Tag Nicaragua sehen und fotografieren wollen, was aus einem Traum geworden ist.

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