: Sand oder Öl im Getriebe?
Der Dichter Günter Eich war den Nazis mit Propagandatexten gefällig. Im Streit um seine Verstrickung wird von allen Seiten grob vereinfacht ■ Von Peter Walther
Der Literaturstreit um Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ war gerade abgeebbt, als im Frühjahr 1993 eine neue Debatte für Schlagzeilen im deutschen Feuilleton sorgte. Diesmal ging es um die Verstrickung des Dichters und Hörspielautors Günter Eich in den Propagandaapparat der Nazis.
Ein brisantes Thema: Eich hatte mit Gedichten wie „Inventur“ eine literarische Strömung geprägt, die in den Jahren nach dem Krieg den Nerv der Zeit traf. Der knappe, resümierende Ton der „Kahlschlagpoesie“ markierte einen Neubeginn in der deutschen Nachkriegsliteratur. Der „stille Anarchist Günter Eich“ (Peter Bichsel), erster Preisträger der Gruppe 47, galt seit den frühen Jahren der Bundesrepublik als moralische Instanz. „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“ – dieser Satz aus seinem Hörspiel „Träume“, den Eich 1968 den Demonstranten auf dem Ostermarsch zurief, wurde zu einem Motto der Studentenbewegung.
1979, sieben Jahre nach dem Tod des Dichters, veröffentlichte Fritz J. Raddatz einen vierseitigen Artikel in der Zeit, der sich wie eine Generalabrechnung mit jenen Dichtern liest, die während des Dritten Reichs in Deutschland blieben. Marcel Reich-Ranicki reagierte mit einem Beitrag in der FAZ, in dem er Raddatz „Verleumdung statt Aufklärung“ vorwarf, worauf in der Zeit eine Reihe von Schriftstellern zum Thema Stellung nahmen. Im großen und ganzen blieb es jedoch bei diesem Schlagaustausch. Um so polemischer wurde der Streit um einen der Gründungsmythen der westdeutschen Nachkriegsliteratur dann vier Jahre nach dem Fall der Mauer geführt.
Eine Sammlung mit Materialien zum Hintergrund und zum Verlauf der Debatte um Günter Eich ist jetzt als Heft 36 des German Monitor erschienen. Begonnen hatte alles mit einem Essay von Axel Vieregg, dem Herausgeber der Gesammelten Werke von Peter Huchel und Mitherausgeber der Werke von Eich. Nicht aus Marbach oder Hamburg kam die Provokation, sondern vom anderen Ende der Welt – Vieregg lehrt seit über 30 Jahren deutsche Literatur in Palmerston North / Neuseeland. Der Aufsatz, der in einem Materialienband über Eich im Suhrkamp Verlag erscheinen sollte, stieß auf die Ablehnung des Verlages und der Erben des Dichters. Darüber entbrannte ein Streit, der dazu führte, daß der Suhrkamp Verlag den Vertrag mit Vieregg über die Edition einer Eich-Briefausgabe kündigte. Vieregg brachte seinen Aufsatz deshalb als Broschüre in der kleinen Edition Isele heraus.
Nacheinander wird Vieregg in den Feuilletons verschiedener wichtiger Zeitungen abgekanzelt: „Ideologiekritischen Eifer und den moralischen Empörungston desjenigen, der sechzig Jahre später das Richtige vom Falschen zu scheiden weiß“, wirft Ulrich Greiner, der kurz vorher im Fall Christa Wolf selber die Trennlinie zwischen Gut und Böse recht scharf gezogen hatte, dem Literaturwissenschaftler in der Zeit vor. Jürgen Busche schreibt in der SZ: „Günter Eich heute mehr oder weniger in die Nähe der Nazis zu rücken ist ein Akt der Wichtigtuerei. Weiter braucht man mit seinem Urteil über Vieregg nicht zu gehen.“
Warum der starke Tobak? Liest man den Aufsatz von Vieregg, ist kaum zu verstehen, weshalb er so heftige Reaktionen provoziert hat. Daß Günter Eich – ebenso wie seine Freunde Peter Huchel und Eberhard Meckel – in der Nazizeit für den Rundfunk gearbeitet hatte, war längst bekannt. Nur hatte sich in Deutschland lange Zeit kaum jemand für die Art und das Ausmaß dieser Rundfunktätigkeit interessiert. Erst die Arbeiten von Hans Dieter Schäfer und des amerikanischen Germanisten Glenn R. Cuomi haben etwas Licht in die Vergangenheit gebracht.
Anpassungen eines Unpolitischen
Demnach hatte Eich zwischen 1933 und 1941 mehr als 160 Arbeiten für den Rundfunk geschrieben, darunter zahlreiche Folgen für die Funkserien „Deutscher Kalender – Monatsbilder vom Königswusterhäuser Landboten“, „Der märkische Kalendermann sagt den neuen Monat an“ und einige Hörspiele. Vieregg zufolge war der „Königswusterhäuser Landbote“ die „mit 75 Sendungen umfangreichste Funkserie des Dritten Reiches“.
Eich mußte sich bei der Arbeit am „Königswusterhäuser Landboten“ nicht verleugnen. Stadtflucht, ländliche Idyllik und die Ausblendung von Politik und Zeitgeschehen gehörten zum Erbe der „Kolonne“, jener Lyrikergruppe, die sich vor 1933 um die gleichnamige Zeitschrift scharte und der auch Eich angehörte. Als die Nazis an die Macht kamen, hatte der junge Dichter gerade begonnen, für den Rundfunk zu arbeiten. Er entschloß sich, im Lande zu bleiben und sein Brot als Schriftsteller zu verdienen. Eich trat in die Reichsschrifttumskammer ein (Mitgliedsnummer 59, die Bürgen: Gottfried Benn und Eberhard Meckel) und stellte am 1. Mai 1933 einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Die Mitgliedschaft ist jedoch – aus welchen Gründen auch immer – nie vollzogen worden. Vieregg weist anhand der Texte und der Briefe Eichs aus jener Zeit die zunehmende Verstrickung des Dichters in das Propagandasystem des Dritten Reichs nach. Die propagandistischen Anforderungen an die Rundfunkarbeiten wurden im Laufe der Jahre immer konkreter, und Eich kam ihnen – wenn auch widerstrebend – nach. In seinen Briefen reflektierte er die finanzielle Zwangslage – der 26jährige hatte sich 1933 ein Haus in Poberow an der Ostsee gekauft und sich 1937 für eine Wohnung in Berlin verschuldet – und verdrängt zugleich sein schlechtes Gewissen durch Ironie und Zynismen.
Wäre Vieregg bei der Aufzählung dieser Fakten geblieben, träfe der Vorwurf des „Biographismus“, den Lothar Baier im Freibeuter gegen den Literaturwissenschaftler erhoben hat, womöglich zu. Allerdings trägt Vieregg seine Ergebnisse nicht im Ton des nachgeborenen Eiferers vor, wie es der Titel von Baiers Aufsatz nahelegt („Literaturpfaffen: Tote Dichter vor dem moralischen Exekutionskommando“).
Vieregg ging es keinesfalls um eine moralische Verurteilung des Dichters: „Eich wurde zu einem bedeutenden Dichter und Moralisten nicht obwohl, sondern gerade weil er seiner eigenen Fehlbarkeit begegnet war: Erst aus der Reflexion über sein eigenes Schuldigwerden konnte er jene Gestalten schaffen, durch die er berühmt wurde“, so resümiert der Verfasser selbst die Grundthese seines Essays. Genau diese Lesart haben die Kritiker Viereggs aus unterschiedlichen Gründen nicht wahrgenommen, heruntergespielt oder bewußt übersehen.
Neuen Schwung bekam die Debatte durch eine aufsehenerregende Entdeckung, die 1993 in einem Kloster bei Prag gemacht wurde. Dort fand man eine Vielzahl von Schallaufnahmen des Reichsrundfunks, die gegen Ende des Krieges nach Böhmen ausgelagert worden waren. Als Matrize erhalten geblieben ist auch Günter Eichs Hörspiel „Die Rebellion in der Goldstadt“, das im Mai 1940 im Zuge einer antibritischen Kampagne in Deutschland urgesendet wurde. Damals galt es, die Bevölkerung auf den Krieg gegen England einzustimmen. Als das Hörspiel 53 Jahre später noch einmal ausgestrahlt wurde, schlugen die Wellen hoch. „Strammstehen für Goebbels, Geld und Urlaub“ titelt Frank Olbert in der FAZ und nennt „Rebellion in der Goldstadt“ ein „rassistisches Hörspiel“, Joachim W. Storck, Initiator der Marbacher Eich-Ausstellung von 1988, überschreibt seinen Artikel eine Woche später in derselben Zeitung mit gegenteiliger Tendenz: „Eichs widerborstiges Goldstadt-Hörspiel“. Die Frankfurter Rundschau bringt einen Artikel zu „Günter Eichs Hörspiel-Hetze“ von Christian Thomas mit dem knappen Titel: „Aus der Traum“.
Verurteilungen statt Trauerarbeit
Damit war genau das geschehen, was Vieregg mit seinem Essay verhindern wollte. Anstatt in dem Wissen um Eichs Verfehlungen und um die exemplarische „Trauerarbeit“ (J. Fetscher), die der Dichter nach dem Krieg geleistet hat, ein Bild von der menschlichen Komplexität und zugleich eine neue Perspektive für das Verständnis seines Nachkriegswerks zu gewinnen, werden Werk und Persönlichkeit Eichs auf seine Verstrickung in das NS-Propagandasystem verkürzt.
Eich sollte nicht ins Gerede kommen, aber mit dem Verschweigen hat man dem Dichter keinen guten Dienst erwiesen. Es war töricht, nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, daß Eich, „ein Autor der Gruppe 47, ein Stück Deutschland, aus dem die Bundesrepublik werden konnte“ (Jürgen Busche), auch solche Verse geschrieben hat: „des Nordlands Völker senken tief ihr Haupt/[...]/Du, schönes Land, in dem die Deutschen wohnen,/ mach wieder deine blauen Augen auf!“ („Sonnenwendchor“, 1937). Günter Eich war weder ein Nazi, noch war er – nach eigenem Bekunden – ein Schriftsteller der „inneren Emigration“. Daß er Konzessionen an die NS-Propaganda gemacht hat, setzt ihn lange nicht mit den geistigen Vorreitern des Systems gleich. Für solche Differenzierungen scheint es zu spät: „Strammstehen für Goebbels“ lautet der Tenor im Fall Eich. Daß es soweit gekommen ist, haben jene zu verantworten, die – nach der Methode „Haltet den Dieb“ – das Bemühen Axel Viereggs und anderer um eine gerechte Sicht auf Leben und Werk des Dichters als „moralischen Rigorismus und Schwarzweißmalerei“ etikettiert haben.
In der Frage, ob man das Verhalten Eichs im Dritten Reich moralisch bewerten könne, haben einige prominente Akteure des Literaturstreits um Christa Wolf flugs die Fronten gewechselt: „Bei den meisten Menschen“, wußte schon Lichtenberg, „gründet sich der Unglaube in einer Sache auf den blinden Glauben in einer andern.“
„Unsere Sünden sind Maulwürfe“. Die Günter-Eich-Debatte, hrsgg. von Axel Vieregg, German Monitor No. 36, Rodopi Verlag, Amsterdam – Atlanta 1996, US-$ 31,50
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