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■ Prügelnde Polizisten werden selten verurteilt. Der Grund: Korpsgeist. Der Ausweg: eine demokratische PolizeireformAlzheimer light

9.600 Mark und 12.000 Mark Geldstrafe fordert der Staatsanwalt in seinem Schlußplädoyer. Der Staatsdiener ist mit seinem Antrag sichtlich milde gestimmt. Was wie der Schnäppchenpreis eines Antiquitätenhändlers klingt, soll die Strafe für zwei Gewalttäter im Staatsdienst sein, denen schwere Mißhandlungen vorgeworfen werden. Heute wird im Landgericht Hamburg das Urteil gesprochen im Fall des Fernsehjournalisten Oliver Neß, der 1994 auf dem Hamburger Gänsemarkt von Polizeibeamten mißhandelt wurde.

Angeklagt sind – von mehreren Mittätern – lediglich Olaf A., der das Opfer brutal mit dem Schlagstock geschlagen und auf dessen Oberkörper gekniet haben soll, und Oliver H., dem ein sogenannter Beinbeugehebel zum bänderzerfetzenden Fußverdreher geriet. Resultat: eine schwierige Operation, ein Jahr Arbeitsunfähigkeit. Auf Nötigung, Freiheitsberaubung und (gefährliche) Körperverletzung hatte der Staatsanwalt geklagt, nun fordert er trotzdem nur eine lächerliche Geldstrafe.

Solche Milde ist einerseits typisch, wenn es sich bei den Tätern um Polizeibeamte handelt; andererseits ist es eher untypisch, weil es schon Seltenheitswert hat, daß sich Polizeibeamte überhaupt vor Gericht verantworten müssen – obwohl Übergriffe und Mißhandlungen seit der deutschen Vereinigung zugenommen haben.

Die Aufklärung von Polizeiübergriffen verläuft schleppend. Zunächst ermittelt die Polizei praktisch in eigener Sache. Dabei kann es – wie im Fall Neß, der ausnahmsweise bestens dokumentiert ist – vorkommen, daß Beweismittel unterdrückt, Einsatzberichte gefälscht, die Opfer zu Tätern stilisiert werden („Rädelsführer“), um die Polizeigewalt nachträglich zu rechtfertigen.

Die meisten Polizeiopfer sind Angehörige sozialer Randgruppen, Ausländer, Drogenabhängige, Obdachlose: Ihre Beweissituation ist in aller Regel chancenlos – zumal, wenn die Täter in Uniform und unter Helmen nicht identifizierbar sind. Und Polizeizeugen leiden erstaunlich oft an hochgradiger Amnesie: Der „Würger vom Gänsemarkt“, der Oliver Neß mit lebensgefährlichem Griff von hinten zu Boden riß, entschuldigte seine Erinnerungslücken als Tatzeuge mit „Alzheimer-light“ – eine typische Polizistenkrankheit? Im Zusammenhang mit dem Hamburger Polizeiskandal, so ein Oberstaatsanwalt über den Polizei- Korpsgeist, sei „vernebelt und verheimlicht“ worden; nur im Bereich der Schwerkriminalität habe er bislang ähnliche Zeugenabsprachen und Manipulationen erlebt.

Insbesondere die Staatsanwaltschaften sind häufig nicht bereit, in solchen Fällen intensiv zu ermitteln. Das zeigt sich etwa in dem Strafverfahren gegen jenen niedersächsischen SEK-Beamten, der 1994 den kurdischen Jugendlichen Halim Dener aus nächster Nähe erschoß. Hier hat die Staatsanwaltschaft praktisch die rechtfertigende Version („Unglücksfall“) des Beschuldigten übernommen und lediglich fahrlässige Tötung angeklagt. Im Hochsicherheitssaal des OLG Celle pflegt der Staatsanwalt mit dem Angeklagten einen betont verständnisvollen Umgang und hilft ihm beflissen über alle Widersprüche seiner Aussagen hinweg. Diese notorische Fürsorglichkeit unter Staatsdienern mag an der objektiven Verbundenheit zwischen Staatsanwaltschaft und ihren polizeilichen Hilfsbeamten liegen. Polizeitäter werden durch Führungsbeamte betreut und genießen gegenüber „Normaltätern“ Sonderrechte. So konnte der SEK- Beamte unmittelbar nach dem tödlichen Schuß Gespräche mit Kollegen führen, sogar seine Hände (in Unschuld?) waschen und wichtige (Schmauch-)Spuren im wahrsten Sinne verwischen.

Im Ermittlungsstadium bleiben denn auch die allermeisten Verfahren gegen beschuldigte Polizisten hängen. In über 90 Prozent der Fälle werden die Ermittlungen eingestellt. Falls es doch zu einem Gerichtsverfahren kommt, lautet das Urteil: Freispruch „mangels Beweisen“. Regelmäßig triumphiert dabei die Polizeiversion – Ausnahmen bestätigen die Regel.

Das Problem mangelhafter Kontrolle polizeilichen Handelns, das zu einer relativen Sanktionsimmunität führt, ist bis heute ungelöst. Ein Grund dürfte die deutsche Tradition sein: Obrigkeitsstaatliche Vorprägung, in der militärische Traditionen, ausgeprägter Korpsgeist, Feindbildpflege und autoritäre Strukturen eine wesentliche Rolle spielten. Diese Prägungen sind auch heute noch nicht überwunden. Daran muß eine grundlegende Polizeireform ansetzen, die eine demokratisch strukturierte „Bürger-Polizei“ schaffen will. Dazu gehört auch – neben der offenen Kennzeichnung von Polizisten und dem Recht auf Einsicht in Polizeiakten – die Einrichtung unabhängiger Kontrollinstanzen in Gestalt von Polizeibeauftragten in Bund und Ländern. Diese müßten vom Parlament gewählt, dort angesiedelt und mit eigenen Kontrollbefugnissen ausgestattet werden. Sie müßten für alle Bürger ansprechbar sein, auch für Polizeibeamte, die aus dem Korpsgeist ausbrechen und gegen gewalttätige Kollegen auspacken wollen – und zwar ohne Einhaltung des Dienstwegs, ohne Furcht vor beruflichen Nachteilen. Damit könnten Abschottungstendenzen, etwa in geschlossenen Einheiten oder Problemwachen, wenigstens ansatzweise aufgebrochen werden. Sicher könnten Polizeibeauftragte keinen Polizeiübergriff verhindern – aber es bestünde die Chance, daß allein ihre Existenz das Binnenklima innerhalb der Polizei positiv verändern, Zivilcourage fördern und größere Umsicht beim Umgang mit Angehörigen sozialer Minderheiten bewirken könnte.

Doch weder Kontrollverbesserung noch isolierte Polizeireformen werden ausreichen, wenn die Politik – die Sicherheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik – die alte bleibt. Denn eine wirklich demokratische, sozial eingestellte und nicht-rassistische Polizei wird es in Deutschland nicht geben, solange sie fortwährend aufgerüstet, zur Allzuständigkeit verdammt und als „Ausputzer“ verfehlter Politik mißbraucht wird, so lange sie einen Staat mit Polizeigewalt zu schützen hat, der eine Politik der Sozialdemontage, des Grundrechteabbaus und eine im Grunde rassistische Migrationspolitik betreiben. Rolf Gössner

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