: Wildanarchistischurgemütlich
Auch an der Peripherie ist Hauptstadt: In Marzahner Discos und Kneipen wird der undogmatische Paartanz gepflegt und herrscht allerbeste Stimmung. Ein nächtlicher Streifzug ■ Von Dorothee Wenner
„Damals sind wir nur wegen der Wohnung gekommen: 12. Stock, schöner Ausblick, Heizung, gute Sanitäranlagen und so weiter. Von Marzahn selber waren wir nicht gerade begeistert“, erzählt Uta Gärtner, die an der Humboldt-Universität Burmanistik unterrichtet. „Das Umfeld haben wir erst nach und nach schätzen gelernt. Doch wie die meisten Nachbarn und Freunde möchten wir inzwischen nicht mehr weg. Fast alle Besorgungen kann man zu Fuß erledigen, die Grünanlagen sind schön zugewachsen – man hat sich halt so eingelebt.“ Nur fürs Ausgehen sei Marzahn „nicht gerade berühmt“. Auch die autobahnähnlichen Straßen eignen sich nicht so zum Flanieren.
Abenteuerlustige, denen in Mitte inzwischen alles ein bißchen zu angestrengt orange vorkommt, können sich trotzdem in einigen Marzahner Etablissements amüsieren. In der Baccara-Bar zum Beispiel, die man auf der noch zu Lichtenberg gehörenden Seite der Rhinstraße findet.
Gegen die Einheitsästhetik des Westens wird hier noch eine metropolite Osttradition gepflegt, die eher an Budapest oder Warschau als ans gewohnte Berlin erinnert. Im September 1994 wurde die Hotel-Disco im früheren Arbeiterwohnheim (AWO), die nach der Wende zunächst Dschungel genannt wurde, luxuriös renoviert und wiedereröffnet. Seitdem bewirbt die senatseigene Betreiberfirma BCA (Berlin City Appartements) die Baccara-Bar als „garantiert technofreie Disco“ im Berliner Rundfunk.
Davon fühlt sich auch Eberhard G., ein Enddreißiger aus Hellersdorf angesprochen: „Seit meine Mitgliedschaft im Single-Club Steglitz ausgelaufen ist, komme ich fast jedes Wochenende her. Billiger als Steglitz ist es hier zwar auch nicht, aber dafür habe ich doch schon einige nette Leute kennengelernt. Und ich muß sagen, irgendwann hatte ich auch genug davon, immer zum Tanzen in den Westen rüberzufahren!“ Wie die meisten Baccara-Besucher schätzt auch Eberhard G. den undogmatischen Paartanz.
Je nachdem, ob man allein, im Freundeskreis, paar- oder perverserweise mit den Eltern zum Tanzen geht, wird an der Theke, auf den Sofas oder an einem der Cocktailtische Platz genommen. Intellektuelle, im zweiten Frühling frisch Verliebte und lustig schnatternde junge Muttis mit Wespentaillen werden von durchaus professionellen Kellnerinnen und Kellnern bedient, die wiederum von einer Chefin in schwarzem Disco-SM-Outfit supervisiert werden. Die Menschen hier trinken: „Flirt-Duo Infernale“ (10 Mark), „Pretty Woman“ oder „Body Builder“ (11 Mark). Im goldenen Gästebuch steht: „Hallo Leute! Wenn Ihr 'ne Menge Spaß haben wollt, dann drückt Euch einfach so gegen halb zwei mit Heike und Sabine von der Rezeption in der Lobby rum!“
Eine andere Sabine unterhält, etwa zur gleichen Zeit, die Besucher im Café Malibu im Freizeitforum Marzahn. Kess, braun und blond wie alle Bardamen dieser Disco, kommt Sabine als Krankenschwester verkleidet für einen Mitmachstriptease auf die Tanzfläche und fordert diverse Männer lasziv dazu auf, sich „als Patienten“ das Hemd und ihr den Kittel vom Leib zu reißen oder den BH zu öffnen. Die machen dann mit oder lachen verlegen mädchenhaft, und das dauert so in etwa fünf Minuten. Das ist auch schön, weil es auch sehr heiß ist.
Wegen der an optischen Reizen überreichen Gestaltung fügt sich die Stimmungskanone Sabine allerdings eher in das urgemütlich- kalifornische Strandpartygeschehen ein, als daß sie es dominiert. Auf jedem Quadratmeter des Malibu und des schwellenlos folgenden Restaurants Artus gibt es Überraschendes zu entdecken. Wildanarchistischurgemütlich stehen Ritterrüstungen neben deckenhohen Grotten, von den mit Lichterketten behängten Palmen, Papageienkäfigen und Surfbrettern bis zur altdeutschen Bauernmöbelstube mit Kamin sind es nur wenige Schritte.
Das Publikum ist etwas jünger und legerer als in der Baccara-Bar. Die meisten gehören zur Szene der ewig 29jährigen. Auch Renate S., die im Malibu ihren Geburtstag feiert, wie der Diskotheker um Mitternacht allen Gästen mitteilt. „Zu Hause könnte ich zwar auch feiern, aber dann bekämen wir wohl doch Probleme mit den Nachbarn. Außerdem treffe ich meine Freunde sowieso meistens hier, nur bringen sie mir sonst keine Geschenke mit. Na ja, an anderen Samstagen bin ich ja auch nicht so spendabel“, erklärt das Geburtstagskind und wird gleich wieder von einem Verehrer auf die Tanzfläche gezerrt.
Harvey's Landhaus Marzahn ist ein Restaurant mit einer Festhalle, die zur Disco umgerüstet wurde. In dem holzvertäfelten Mehrzwecksaal, der mit Wolkengardinen, Kandelabern und abgesenkter Tanzfläche einem Windsor-Schloß nachempfunden ist, geht es auch Samstag nachts recht gesittet zu und ab. Ein ortskundiger Barnachbar meint, daß sich die schräg gegenüber liegende Residenz der PDS-Marzahn disziplinierend auf die Besucher der Disco auswirke.
Keineswegs jedoch herrscht hier miese Stimmung, vielmehr schwebt über den Paar-Tanzenden die Atmosphäre des schönen Songs: „Wenn der Sommer kommt, geht es wieder los / Ich war in Sachen Liebe unterwegs ... “ Mit nur fünf Mark Eintritt und äußerst preisgünstigen Getränken ist das Landhaus ein Publikumsmagnet: An der Bar sitzen gestandene Geschäftsleute neben Technogirls mit Freundinnen, die deren Mütter sein könnten.
Zum Feierabend prostet sich das hoch motivierte und gutgelaunte Kellnerteam zu: Es ist kaum zwei Uhr, die offenen Rotkäppchen-Flaschen werden noch flugs geleert, während der DJ ankündigt, daß „uns an diesem Sonntagmorgen jetzt nur noch ein halbes Stündchen bleibt“. Und so klingt ein Abend aus, auf den das Vorwort der Speisekarte durchaus zutrifft: „Na jut, die alten Zeiten könn' wer nicht zurückholen, aba für'n paar Stunden könn' Se bei uns richtijehend riläcksen.“
Baccara-Bar, Rhinstraße Di./Mi.: 20–1 Uhr, Do.–Sa.: 21 Uhr, open end. Eintritt: 8 Mark incl. 5 Mark Verzehr; Café Malibu im Freizeitforum Marzahn, Marzahner Promenade 55, täglich ab 11 Uhr geöffnet, jeden Fr./Sa. Mitternachtstanz, Eintritt: 5 Mark. Harvey's Landhaus Marzahn, Alt-Marzahn 49, „Schlemmern und Schwoofen“ täglich ab 11 Uhr, Eintritt 5 Mark.
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