: Live aus Weimar
■ "Nieder mit Goethe": Eine Liebeserklärung von Hans Magnus Enzensberger aus Weimar für 3sat und das Internet
Mit einer fiktiven Talk-Show um Johann Wolfgang von Goethe steht in Weimar heute ein ambitioniertes Theater- und Fernsehprojekt auf dem Programm: „Nieder mit Goethe!“ heißt das Kunstfestspektakel, das auf einer literarischen Vorlage von Hans Magnus Enzensberger beruht und am Abend live aus der Weimarhalle im Kulturkanal 3sat übertragen wird. Anhand verbürgter Äußerungen von Goethe-Zeitzeugen werden ein Moderator – der „Stern TV“-Chef Günther Jauch – und vier Schauspieler – Hanna Schygulla, Nicole Heesters, Ulrich Wildgruber und Robert Hunger- Bühler – demonstrieren, wie der Dichter zu Lebzeiten beschimpft, verrissen und verleumdet wurde.
Die solchermaßen als Beschimpfung getarnte Verehrung Goethes hat den Untertitel „Eine Liebeserklärung“. Sie ist TV- und Theaterevent zugleich und wird nur einmal aufgeführt. Die Aufführung ist seit Wochen ausverkauft.
Man hat es sich wohl etwa so vorzustellen: Etwa 800 zahlende Zuschauer werden sich in der Weimarhalle einfinden, während vor den Bildschirmen eine halbe Million zusieht, wie Günther Jauch seine Gäste im Zaum zu halten sucht. Sie sind in historische Kostüme gepreßt und ziehen über den geliebt-gehaßten Goethe her. Aus der Kommentatorenkabine winkt derweil Marcel Reif. Frau Schygulla etwa spielt eine Zeitgenossin Goethes namens Karoline Herdlein, deren historisches Vorbild Rahel Levin ist. Eine Frau mit sprühendem Witz und berühmtem literarischen Salon; hier allerdings läßt sie Haßtiraden vom Stapel. Daneben Ulrich Wildgruber als alternder Kritikerpapst und Goethehasser, während wir in Nicole Heesters keine geringere als Charlotte von Stein erkennen, die Goethe- Intima und verschmähte Liebhaberin des Weimarer Multitalents. Links außen, last but not least, Robert Hunger-Bühler als blinder Eiferer Ludwig Birnbaum.
Tatsächlich geht heute abend eine absolute Weltpremiere durch die Medien: Eine Goethe-Runde, auf der Bühne, im Fernsehen und im Internet. So sieht sie aus, die Talk-Show des multimedialen Zeitsprungs, die sich nur vordergründig in die Reihe einfügt, mit der 3sat sich schon seit geraumer Zeit als der Kultur- und Theatersender (siehe Theatertreffen) profiliert. Was von Weimars Backsteinhalle aus in die Welt gesendet wird, hat es so noch nicht gegeben. Eine Theaterinszenierung, die sich während ihrer Uraufführung selbst erledigt, da sie nur einmal live gezeigt wird.
Vor allem ist „Nieder mit Goethe“ eine Zeitreise, in der die größte Irritation darin liegen könnte, daß die vier Zeitgenossinnen und -genossen aus der Goethezeit eigentlich spielen müssen, daß sie mit den Regeln moderner Massenkommunikation nicht vertraut sind. Vordergründig wird das allein schon daran zu sehen sein, daß Hanna Schygulla alias Karoline Herdlein nach reichlichem Alkoholgenuß vom Stuhl zu kippen hat. Günther Jauch dagegen, der neuzeitliche Talkmaster, darf unbekümmert den Medienfuchs geben – Hans Magnus Enzensberger wünschte sich das ausdrücklich; nach anfänglichem Zögern und einem Gespräch mit Enzensberger fiel der Umworbene in die ausgebreiteten 3sat-Arme.
Wolfgang Bergmann, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Senders, betont, daß die Erfahrung mit den so unterschiedlichen Protagonisten bisher durchaus positiv seien und man sich im Sender die Zusammenarbeit mit Schygulla und Co schwieriger vorgestellt habe. Was Regisseur Andreas Missler-Morell da im Moment in Abwesenheit des Herrn Jauch probe (der wird im letzten Moment improvisierend dazustoßen), sei getragen von der „Lust am Experiment“.
Bei 3sat hat man sich sehr schnell entschlossen, Enzensbergers Stück nicht nur zu übertragen, sondern es selbst zu produzieren. Der Grund: „Eigentlich gehen Theater und Fernsehen ja nicht zusammen. Enzensberger allerdings hat das erste Stück geschrieben, in dem eine kongeniale Verschmelzung stattfindet und das erst dann komplett ist, wenn es live übertragen wird“, sagt Wolfgang Bergmann. Und Günther Jauch? „Die Rolle, die Enzensberger geschrieben hat, fängt für mich sehr schön die Situation des scheiternden und immer nur glättenden Talkmasters ein. Enzensberger hat die Feigheit herausgearbeitet, die es im Fernsehen allzu häufig gibt.“ Jürgen Berger
„Nieder mit Goethe“. Nach einem Text von Hans Magnus Enzensberger; Regie: Andreas Missler- Morell; als Talkmaster: Günther Jauch. Heute in Weimar und live auf 3sat (22.10 Uhr). Außerdem im Internet: http://www.salve.com
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